Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
wirken, als wären sie mit Blut geschrieben. Der Druck sieht selbst gemacht aus.
»Hi, Olivia«, sagt Linnéa und klingt plötzlich müde.
»Hi«, sagt sie, ohne Minoo eines Blickes zu würdigen. »Die erste Stunde fällt aus, stattdessen ist Vollversammlung in der Aula.«
Minoo und Linnéa tauschen einen kurzen Blick. Geht es vielleicht um Adriana?
»An der Versammlung müssen alle Schüler teilnehmen, aber das überprüft ja keiner«, fährt Olivia fort. »Hauen wir ab?«
»Ich kann nicht«, sagt Linnéa.
Olivia hebt ihre dunkel nachgezogenen Augenbrauen.
»Diana hat mich auf dem Kieker«, sagt Linnéa. »Ich muss jetzt jede Sekunde ein braves Mädchen sein.«
Olivia wirft Minoo einen abschätzigen Blick zu, als wäre es ihrem schlechten Einfluss zu verdanken, dass Linnéa nicht schwänzen will, dann geht sie ohne ein weiteres Wort.
Minoo und Linnéa folgen dem Strom. Die Aula ist fast voll besetzt und nur weiter vorne sind noch Plätze frei. Die beiden schlüpfen in die vierte Reihe, hinter Vanessa und ihre Freunde.
Als sie sitzen, dreht Vanessa sich um.
»Wisst ihr, worum es geht?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet Minoo.
Vanessa schaut Linnéa an.
»Wie ist es gestern eigentlich gelaufen?«, fragt sie. »Ich habe versucht, dich zu erreichen …«
»Ich will nicht drüber reden«, unterbricht Linnéa ihren Satz, ohne sie dabei anzusehen.
»Okay«, sagt Vanessa kurz und dreht sich wieder um.
Minoo beobachtet Linnéa aus den Augenwinkeln. Gedankenverloren knibbelt sie an ihrer Nagelhaut.
Sie wüsste gerne, was passiert ist. Aber sie traut sich nicht, Linnéa zu fragen. Wenn Linnéa in dieser Stimmung ist, hält man besser den Mund.
Die gelben Polohemden marschieren ein und füllen die halb leeren Reihen ganz vorne. Es sind mehr, als Minoo am Eingang gesehen hat. Der halbe ESV hat seine rot-weißen Trikots gegen Gelb eingetauscht, darunter auch Kevin. Gott sei Dank ist Gustaf nicht dabei.
In den vorderen Reihen wird Beifall laut und Tommy Ekberg betritt die Bühne. Wenigstens hat er heute ein Hemd ohne Migräne auslösende Muster angezogen. Er sieht verwirrt aus, als wäre er sich nicht sicher, ob der Applaus ironisch oder ehrlich aufmunternd gemeint ist. Als er sich ans Rednerpult stellt, wird es schlagartig still. Er räuspert sich und beugt sich zum Mikrofon vor. Im Scheinwerferlicht glänzt seine Glatze.
»Liebe Schüler. Ich weiß nicht, ob es sich schon herumgesprochen hat … Aber bedauerlicherweise ist Adriana Lopez nicht mehr unter uns …«
Ein Raunen geht durch die Aula, und Tommy Ekberg bemerkt, wie unglücklich seine Formulierung war, denn er fügt mit lauter Stimme hinzu: »Nein, nein! Ich wollte sagen, sie hat gekündigt. Aus persönlichen Gründen. Ich übernehme den Posten des geschäftsführenden Rektors bis … ja, bis auf Weiteres.«
Er fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn, um ein paar Schweißperlen wegzuwischen. Zumindest scheint er seine neu gewonnene Macht nicht zu genießen.
»Aber ich denke, so wie überall im Leben ist es wichtig, diese Veränderung nicht negativ zu bewerten, sondern sie als Anfang eines neuen, spannenden Abschnitts zu betrachten. Wir müssen nach vorne blicken. Gemeinsam! Und aus diesem Grund haben wir uns heute hier versammelt. Wir vom Engelsfors Gymnasium haben eine einzigartige Zusammenarbeit mit einer einzigartigen Organisation ins Leben gerufen. Unsere Schule wird in Zukunft eine
positive
Ausrichtung einnehmen. Der neue Geist wird sich durch den gesamten Unterricht ziehen, von Gemeinschaftskunde über Sport bis hin zur Mathematik.«
Er holt tief Luft und fügt mit einem krampfhaften Augenzwinkern hinzu: »Wobei wir zumindest in Mathe nicht um negative Zahlen herumkommen werden.«
Minoo wünschte, es würde sich ein Loch auftun, in dem sie verschwinden kann.
Aber die vorderen Reihen lachen begeistert. Tommy wird zusehends lockerer.
»Jetzt ist es Zeit, die Bühne für einen wahren Profi zu räumen«, sagt er. »Meine Damen und Herren! Ich habe die große Ehre, die Initiatorin der Zukunft von Engelsfors zu präsentieren: Helena Malmgren!«
30. Kapitel
V
anessa hat Elias’ Mutter schon ein paarmal gesehen, bei den Schulabschlussfeiern und bei Melvins Taufe. Sie gehört zu diesen Menschen, die man nicht vergisst, deren Gesichter sich einbrennen.
Aber jetzt, als sie in einer gelben Tunika und Jeans die Aulabühne betritt, scheint es, als wäre ihr Charisma noch gewachsen. Es ist geradezu unmöglich, sie
nicht
anzusehen.
Die
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