Feuer (German Edition)
verfallenen Villen, der schweigsame Fluß, die Reliquien der Königinnen und Kaiserinnen, die Kristallvisiere auf dem fieberheißen Antlitz, das wilde Labyrinth, die nutzlose Verfolgung, das Entsetzen und die Todesangst, die leuchtende und furchtbare Blässe, der zu Eis erstarrte Körper in den Kissen des Wagens, die leblosen Hände, alle diese traurigen Dinge erschienen dem Geist des Geliebten in einem neuen Licht. Und er blickte das wunderbare Geschöpf an, bebend in Schrecken und Bestürzung, als sähe er sie zum ersten Male, und ihre Gesichtszüge, ihr Schritt, ihre Stimme, ihre Kleider wären von vielfältiger und seltsamer Bedeutung, die in ihrer Schnelligkeit und Zahl für ihn ungreifbar war, wie zuckende Blitze. Hier war sie, ein hinfälliges Geschöpf aus Fleisch und Bein, den traurigen Gesetzen der Zeit unterworfen. Und gleichsam eine Fülle wirklichen und idealen Lebens lastete auf ihr, breitete sich um sie aus, pulsierte mit dem Rhythmus ihres eigenen Atems. Sie war an der Grenze menschlicher Erfahrung angelangt, diese verzweifelte umherwandernde Frau: sie wußte, was er niemals hätte wissen können. Der Mann des Frohsinns empfand die Anziehungskraft von so viel angehäuftem Schmerz, von so viel Erniedrigung und so viel Stolz, von so viel Kampf und so viel Sieg. Er hätte dieses Leben leben mögen. Er beneidete dieses Los. Erschreckt betrachtete er die zarten bläulichen Adern auf dem Rücken ihrer bloßen Hand, die sich so deutlich abzeichneten, als wäre keine Haut darüber gespannt, und die durchsichtigen Nägel, die um den Stiel des Kelchglases glänzten. Er dachte an einen Tropfen dieses Blutes, das in diesem Körper kreiste, gehemmt durch die natürlichen Grenzen, und dennoch unermeßlich wie das Weltall. Es schien ihm, als gäbe es in der Welt nur einen Tempel: den menschlichen Körper. Ihn wandelte eine wilde Lust an, die Frau an seiner Seite anzuhalten, sich ihr in den Weg zu stellen, sie zu betrachten, intensiv, alle ihre Erscheinungsformen in sich aufzunehmen, sie zu befragen bis ins Endlose. Seltsame Fragen tauchten in seinem Geiste auf: ›Als junges Mädchen zogst du die Landstraße entlang, in einem mit Theaterrequisiten beladenen Karren lagst du ausgestreckt auf einem Bündel welken Laubes, gefolgt von der Schar der Komödianten, an den Weingeländen vorüber, und ein Winzer bot dir einen Korb voller Trauben dar? Glich nicht der Mann, der dich zum erstenmal besaß, einem Satyr, und hörtest du in deinem Entsetzen den Wind über die Ebene brausen und jenen Teil deines Selbst weit mit sich führen, den du immer suchen wirst und niemals wiederfindest? Wieviel Tränen trankst du an dem Tage, da ich dich hörte, und Antigone in dir mit einer so reinen Stimme sprach? Besiegtest du die Völker, eines nach dem anderen, wie man Schlachten gewinnt, um ein Reich zu erobern? Witterst du sie am Geruch, wie die reißenden Tiere? Ein Volk lehnte sich auf gegen dich, widerstand dir, und als du es bezwangst, liebtest du es mehr als jene, die dich anbeteten bei deinem ersten Erscheinen. Ein anderes, jenseits des Ozeans, dem du eine unbekannte Art des Fühlens offenbartest, kann dich nicht vergessen und schickt dir Botschaft über Botschaft, damit du ihnen wiederkehrst. ... Welch unerwartete Schönheiten werde ich aus deiner Liebe und aus deinem Schmerz erstehen sehen?‹
Sie erschien ihm hier auf dem einsamen Wiesenplatz der vergessenen Insel unter dem klaren Winterhimmel dieselbe, als die sie ihm in der fernen dionysischen Nacht erschienen war, unter den Lobpreisungen der um die Tafel versammelten Dichter. Dieselbe befruchtende und offenbarende Kraft strömte von der Frau aus, die den Schleier zurückschlagend gesagt hatte: »Ich weiß, was der Hunger ist ...«
»Es war im März, ich entsinne mich,« fuhr die Foscarina mit weicher, einschmeichelnder Stimme fort. »Ich ging des Morgens in der Frühe durch die Felder mit meinem Brot. Ich ging aufs Geratewohl. Die Steinbilder waren mein Ziel. Ich ging von einer Statue zur anderen, als machte ich ihnen einen Besuch. Einige schienen mir wunderschön, und ich versuchte ihre Gesten nachzuahmen. Aber am längsten hielt ich mich bei den Verstümmelten auf, gleichsam aus dem Instinkt heraus, sie zu trösten. Des Abends auf der Bühne, während ich spielte, mußte ich an eine oder die andere denken, und ich empfand ihre Ferne und Einsamkeit auf dem stillen Gelände unter den Sternen so tief, daß es mir war, als konnte ich nicht weiter sprechen. Das Publikum wurde
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