Feuer (German Edition)
stark in mir, daß ich mich fast von meiner Mutter getrennt hätte – Gott verzeihe mir –, daß ich sie fast verlassen hätte ... In mir wurde es ganz einsam; nichts von allem, was mich umgab, berührte mich. Ich blieb allein mit meinem Schicksal ... Meine Mutter, die an meiner Seite lebte, rückte in eine unendliche Ferne. Ach, sie mußte sterben, und sie bereitete sich schon vor auf die Trennung von mir, und vielleicht waren dies Ahnungen! Sie drängte in mich, zu essen, mit Worten, die nur ihr zu Gebote standen. Ich antwortete ihr: ›Warte! Warte!‹ Ich konnte nur trinken, ich hatte eine Gier nach frischem Wasser. Zuweilen, wenn ich erschöpfter und erregter war als sonst, lächelte ich lange Zeit hindurch. Und auch die Heilige mit ihrem tiefen Herzen konnte nicht verstehen, woher mir dieses Lächeln kam ... Unvergleichliche Stunden, in denen es scheint, der Geist habe das Gefängnis des Körpers durchbrochen und irre an den äußersten Grenzen des Lebens umher! Was war wohl Ihre Jugend, Stelio? Wer kann sie sich vorstellen? Wir alle haben das Gewicht des Schlafes empfunden, der plötzlich auf unseren Körper niedersinkt nach der Anstrengung oder der Trunkenheit, schwer und schnell, wie ein Hammerschlag, und uns leblos zu machen scheint. Aber auch die Traumgewalt bemächtigt sich unser zuweilen im Wachen mit derselben Heftigkeit und packt und hält uns gefangen. Und unser Wille vermag keinen Widerstand zu leisten, und es scheint, als löste sich das ganze Gewebe unseres Seins, und als spänne mit denselben Fäden unsere Hoffnung ein anderes, leuchtenderes, seltsameres ... Ich muß an einige der schönen Worte denken, die Sie über Venedig sagten an jenem Abend, als Sie es einem Geschöpfe verglichen mit wundersam geschickten Händen, die Lichter und Schatten zu einem Gewebe unendlicher Schönheit miteinander verflochten. Sie allein vermögen zu sagen, was unsagbar ist ... Dort auf jener Holzbank, vor dem groben Tisch in dem Wirtshaus zur Flamme in Dolo, wohin das Schicksal mich neulich mit Ihnen zurückführte, hatte ich einst die seltsamste Vision, die der Traum je in meiner Seele weckte. Ich sah Unvergeßliches. Ich sah vor die wirklichen Gegenstände, die mich umgaben, Erscheinungen treten, die mein Instinkt und meine Gedanken erzeugten. Hier vor meinen starren Augen, die das rote und dampfige Petroleumlicht des improvisierten Lampenkastens im Theater versengt hatte hier begann die Welt meiner Ausdrucksfähigkeiten lebendig zu werden ... Die ersten Linien meiner Kunst entwickelten sich in diesem Zustand der Angst, der Erschöpfung, des Fiebers, des Ekels, in dem meine Empfänglichkeit, ich möchte sagen, fast plastisch wurde, wie die glühende Materie, die vorhin die Glasbläser an den Spitzen ihrer Rohre hielten. Es war ein natürliches Sehnen in mir, umgemodelt zu werden, einen Odem zu empfangen, die Form mit einem Inhalt zu füllen ... An manchen Abenden sah ich mich auf dieser mit Kupfergeräten bedeckten Wand wie in einem Spiegel mit dem Ausdruck des Schmerzes oder der Wut und mit einem unkenntlichen Gesicht. Und um der Sinnestäuschung zu entfliehen und die Starrheit meines Blickes zu unterbrechen, blinkte ich schnell mit den Augenlidern. Meine Mutter wiederholte: ›Iß, Kind, iß wenigstens dies!‹ Aber was waren Brot und Wein, Fleisch, Früchte, alle diese schwerverdaulichen Dinge, die für den sauer erworbenen Verdienst erstanden wurden, im Vergleich zu dem, was ich in meinem Innern barg? ›Warte,‹ wiederholte ich. Und wenn wir aufstanden, um fortzugehen, nahm ich mir ein großes Stück Brot mit. Am nächsten Morgen verzehrte ich es dann gern im Freien unter einem Baum oder am Ufer der Brenta, auf einem Stein oder im Grase sitzend ... Diese Statuen!«
Wieder machte die Foscarina an dem Ende des neuen, zwischen Mauern entlang führenden Fußweges Halt, der auf einen verödeten Wiesenplatz, dem Campo di San Bernardo, mündete, wo das alte Kloster stand.
In der Ferne ragte der Glockenturm von San Angeli, über dem eine schöne Wolke das Bild einer Rose auf ihrem Stiel erweckte. Und das Gras war weich und wohlig und von einem satten Grün, wie in dem Park der Pisani in Strà.
»Diese Statuen!« wiederholte die Schauspielerin mit so gespanntem Blick, als wären sie hier vor ihr in ihrer Massenhaftigkeit und verstellten ihr den Weg. »Sie erkannten mich nicht neulich, aber ich erkannte sie, Stelio.«
Die fernen Stunden, die feuchte und dunstige Landschaft, die entblätterten Pflanzen, die
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