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Feuer (German Edition)

Feuer (German Edition)

Titel: Feuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele d'Annunzio
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dann?«
    Der Wecker näherte sich ihr mit solchem Ungestüm, als wollte er sie schlagen, um ihr Funken zu entlocken.
    »Du mußt Kassandra aus ihrem Schlaf heraufbeschwören, in deinen Händen mußt du ihre Asche zu neuem Leben erstehen fühlen, du mußt sie in deiner Hellsichtigkeit vor dir sehen. Willst du? Begreife nur! Deine lebendige Seele muß die antike Seele berühren, sie muß mit ihr verschmelzen zu einer einzigen Seele und einem einzigen Unglück, so daß der Irrtum der Zeit zerstört erscheint, und jene Einheit des Lebens sich offenbart, nach der meine Kunst mit Gewalt strebt. Kassandra ist in dir, und du bist in ihr. Hast du die Tochter des Priamus nicht geliebt, liebst nicht auch du sie? Wer könnte dich je vergessen, wenn er dich einmal hörte, wer könnte je den Ton deiner Stimme vergessen und die Zuckungen deiner Lippen beim ersten Schrei der prophetischen Raserei: ›O Erde! O Apoll!‹ Ich sehe dich wieder auf deinem Karren, stumm und taub, einer Wölfin gleichend, wie oft in jüngster Zeit. Aber durch so viel Entsetzensschreie klang ein unendlich süßes und trauriges Sehnen. Die Alten verglichen dich der ›roten Nachtigall‹. Wie sprachen, wie lauteten doch deine Worte, als du dich deines schönen Flusses erinnertest? Und als die Alten dich nach der Liebe des Gottes fragten? Hast du sie nicht im Gedächtnis?«
    Die Tragödin erbebte, als ob von neuem der Odem des Gottes sie durchdränge. Sie war eine feurige und dehnbare Materie geworden, die allen Beseelungen des Dichters untertan war.
    »Hast du sie nicht im Gedächtnis?«
    »O Paris, dessen Hochzeit unheilvoll den Teuren! O ihr heimischen Wasser des Skamander! Damals, an euren Ufern, waret ihr es, die meiner Jugend Nahrung gabt ...«
    »O du Göttliche, deine Melodie weckt kein Bedauern nach des Aschylos Worten! Ich entsinne mich. Die von der Wehklage ›in unharmonischen Tönen‹ gepreßte Seele der Menge weitete sich und war beglückt durch diesen melodischen Seufzer. Und jeder von uns hatte die Vision seiner fernen Jahre und seines unschuldigen Glückes. Du darfst sagen: ›Ich war Kassandra.‹ Wenn du von ihr sprichst, wirst du dich eines früheren Lebens erinnern ... Ihre goldene Maske wird unter deinen Händen ...«
    Er ergriff ihre Hände, und ohne es zu wissen, tat er ihr weh. Sie fühlte nicht den Schmerz. Beide folgten gespannt den Funken, die ihren vereinten Kräften entsprangen. Eine gleiche elektrische Schwingung lief durch ihre wunderbaren Nerven.
    »Du bist dort, neben der Hülle der gefangenen Fürstin; und du betastest die Maske ... Was wirst du sagen?«
    Es schien, als erwarteten sie in der Pause einen Blitz, um zu sehen. Die Augen der Künstlerin wurden wieder starr. Blindheit erfüllte sie. Ihr ganzes Gesicht wurde zu Marmor. Instinktiv gab der Beleber ihre Hände frei, die die Geberde machten, als betasteten sie das dem Grabe entrissene Gold.
    Sie sagte mit einer Stimme, die die Gestalt greifbar schuf:
    »Wie groß ihr Mund ist!«
    Er erbebte in fast angstvoller Spannung.
    »Du siehst sie also?«
    Sie blieb mit den gespannten und blicklosen Augen unbeweglich.
    »Auch ich sehe sie. Sie ist groß. Die furchtbare Qual der Sehergabe dehnte ihre Formen aus. Sie schrie, sie verwünschte, sie jammerte, ohne Unterlaß. Kannst du dir ihren Mund im Schweigen vorstellen?«
    In derselben Stellung, fast in Verzückung, sagte sie langsam:
    »Welch Wunder, wenn sie schweigt!«
    Es schien, als wiederholte sie Worte, die ein geheimnisvoller Genius ihr zuraunte. Und dem Dichter schien es, daß er selbst sie spräche, während er sie hörte. Er erbebte in tiefem Schauer, wie vor einem Wunder.
    »Und ihre Augen?« – fragte er zitternd. – »Von welcher Farbe, glaubst du, daß ihre Augen wären?«
    Sie antwortete nicht. Die marmornen Züge ihres Gesichts veränderten sich, als glitte eine leichte Woge des Schmerzes darüber hin. Eine tiefe Falte grub sich zwischen die Augenbrauen ein.
    »Schwarz vielleicht?« – fuhr er mit gedämpfter Stimme fort.
    Sie sprach.
    »Sie waren nicht schwarz, aber sie erschienen so, weil in der seherischen Glut die Pupillen sich weiteten, daß sie die Iris verschlangen ...«

    Sie hielt inne, als versage ihr plötzlich der Atem. Auf ihrer Stirne brach der Schweiß aus. Stelio blickte sie stumm und totenbleich an; und das laute Pochen seines bewegten Herzens füllte die Pause.
    »In den Zwischenräumen« – fuhr mit qualvoller Langsamkeit die Verkünderin fort – »wenn sie sich den Schaum von den

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