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Feuer (German Edition)

Feuer (German Edition)

Titel: Feuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele d'Annunzio
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Der Mythos müßte sich erneuern, Daniele, damit wir die neue Kunst schaffen könnten.«
    Während sie gingen, steigerte er sich in immer größere Leidenschaftlichkeit hinein, indem er sich seinem Gedankenfluge hingab, dabei aber keinen Augenblick die Empfindung verlor, daß ein dunkler Teil seiner selbst eins sei mit der tönenden Luft.
    »Hast du jemals bedacht, von welcher Art die Musik sein müßte, die jenen odenartigen Hirtengesang begleitet, den der Chor im ›König Ödipus‹ singt, als Jokaste voller Entsetzen flieht, während der Sohn des Laios sich noch einer letzten Hoffnung hingibt? Kannst du dich erinnern? ›Morgen, Kithairon, erfährst du's, – morgen abend, da leuchtet der Vollmond ...‹ Der Ausblick auf die Berge unterbricht für einige Augenblicke das entsetzensvolle Drama; ländliche Heiterkeit gewährt dem menschlichen Elend einen kurzen Ruhepunkt. Kannst du dich erinnern? Versuche nun, dir die Strophe wie eine Art abgerundeter Erzählung vorzustellen, zwischen deren Zeilen sich eine Reihenfolge körperlicher Bewegungen abspielt, eine ausdrucksvolle Tanzfigur, welche die Melodie mit ihrem aufs höchste gesteigerten Leben befeuert. Jetzt hast du den Geist der Erde vor dir in der planvollen Wesenheit der Dinge; du hast die Erscheinung der großen Allmutter vor dir, die ihren elenden und zitternden Söhnen eine Trösterin ist; du hast endlich ein Preislied alles dessen, was göttlich und ewig ist für die Menschen, die ein grausames Fatum zu Wahnsinn und Tod hinreißt. Und jetzt versuche zu verstehen, inwiefern jener Gesang mir geholfen hätte, um für meine Tragödie die erhabensten und dabei einfachsten Ausdrucksmittel zu finden ...«
    »Hast du die Absicht, den Chor auf der Bühne wieder herzustellen?«
    »Durchaus nicht! Ich denke nicht daran, eine antike Form neu zu beleben; ich will eine neue Form finden und dabei einzig meinem Instinkt und dem Genius meiner Rasse folgen, wie es die Griechen taten, als sie dieses unnachahmliche Gebäude von wundervoller Schönheit schufen, das ihr Drama ist. Da die drei ausübenden Künste, Musik, Poesie und Tanz, so lange schon getrennt sind, und die beiden ersteren sich zur höchsten Ausdrucksfähigkeit entwickelt haben, während die dritte in Verfall geraten ist, so halte ich es nicht mehr für möglich, sie zu einem einheitlichen rhythmischen Ganzen zu verschmelzen, ohne einer jeden ihren eigenen, herrschenden, endgültig erworbenen Charakter zu nehmen. Wollte man sie zu einer gemeinsamen Gesamtwirkung verbinden, so würde jede auf ihre eigentümliche und höchste Wirkung verzichten: eine jede würde schließlich verringert erscheinen. Unter allen ist das Wort das geeignetste Material, um den Rhythmus in sich aufzunehmen; das Wort ist das Fundament jeglichen Kunstwerks, das nach Vollkommenheit strebt. Meinst du, daß im Wagnerschen Drama dem Worte sein Wert zugeteilt sei? Und scheint es dir nicht, als ob dort der musikalische Gedanke häufig seine ursprüngliche Klarheit verliere, indem er von Vorstellungen abhängig gemacht wird, die dem Genius der Musik fremd sind? Richard Wagner hat ganz gewiß selbst das Gefühl der Schwäche, und er gesteht sie zu, wenn er zum Beispiel in Bayreuth auf einen seiner Freunde zugeht und ihm die Augen mit den Händen bedeckt, damit dieser sich völlig dem Zauber der reinen Musik hingeben könne und damit zum tiefen Empfinden eines intensiveren Genusses begeistert werde.«
    »Fast alles, was du mir da auseinandersetzst, erscheint mir neu« – sagte Daniele Glàuro – »und doch berauscht es mich in ähnlicher Weise, wie es einen berauscht, wenn man vorgefühlte und vorgeahnte Dinge nun wirklich erfährt. Du würdest also keine der drei rhythmischen Künste der andern überordnen, sondern du willst sie in gesonderten Erscheinungsformen vorführen, durch eine beherrschende Idee miteinander verbunden, und jede zum höchsten Grade ihrer Ausdrucksmöglichkeit gesteigert.«
    »Ach, Daniele, wie soll ich dir eine Vorstellung des Werkes geben, das in mir lebt?« – rief Stelio Effrena aus. – »Die Worte, in die du meine Absichten zu kleiden versuchst, sind hart und schwerfällig ... Nein, nein ... Wie soll ich das Leben und das subtile, unfaßbare Mysterium, das ich in mir trage, dir verständlich machen?«
    Sie waren an der Treppe der Rialtobrücke angelangt. Rasch erstieg Stelio die Stufen und blieb oben, gegen das Geländer der Brücke gelehnt, stehen, um den Freund zu erwarten. Der Wind fuhr über ihn hin wie wehende

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