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Feuer (German Edition)

Feuer (German Edition)

Titel: Feuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele d'Annunzio
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bleibend angesichts der Flut, die auf die Piazza zurückströmte und die Prokuratien bedrohte. »Wir müssen umkehren.«
    »Nein. Wir wollen uns übersetzen lassen. Da ist eine Barke. Siehe San Marko im Wasser!«
    Der Ruderer fuhr sie nach dem Uhrturm. Die Piazza war überschwemmt; sie sah aus wie ein See in einem Klosterhof mit Säulengängen, in dem der Himmel sich spiegelt; die fliehenden Wolken ließen ihn aufleuchten in der Färbung des grünlichgelben Dämmerlichts. Im letzten Abendscheine erglänzte schimmernd die goldene Basilika wie in einer Aureole; als ob sie sich bei der Berührung mit dem Wasser neu belebt hätte wie ein verdüsternder Wald, und die Kreuze auf den Kuppeln wirkten in dem dunkeln Spiegel wie die Spitzen einer anderen, untergegangenen Basilika.
    »En verus Fortis Qui Fregit Vinculas Mortis« – las Stelio Effrena auf der Inschrift eines Bogens, unterhalb des Mosaiks der Auferstehung. – »Weißt du, daß gerade in Venedig Richard Wagner sein erstes Zwiegespräch mit dem Tode hatte, vor mehr als zwanzig Jahren, in der Zeit des Tristan ? Von einer verzweifelten Leidenschaft aufgerieben, kam er nach Venedig, um hier schweigend zu sterben; und hier komponierte er diesen verzückten zweiten Akt, der ein Hymnus an die ewige Nacht ist. Jetzt führt ihn sein Geschick wieder zu den Lagunen zurück. Es scheint seine Bestimmung, daß er hier den Tod findet, wie Claudio Monteverde. Ist Venedig nicht voll unendlichen, unbeschreiblichen musikalischen Sehnens? Jedes Geräusch klingt hier wie eine ausdrucksvolle Stimme. Horch!«

    Bei dem stürmischen Wehen schien die Stadt aus Stein und Wasser selber zu klingen wie ein rasender Orkan. Pfeifen und Dröhnen wechselten ab in der Art eines mächtigen Chorals, der in rhythmischem Fall anschwoll und fiel.
    »Unterscheidet dein Ohr nicht die Führung einer Melodie in diesem ächzenden Chor? Horch!«
    Sie hatten die Barke verlassen und gingen durch die engen Gassen, überschritten kleine Brücken, wanderten längs der Mauern, und verloren sich auf gut Glück im Innern der Stadt; aber trotz seines krankhaften Bedürfnisses, zu laufen, orientierte sich Stelio fast instinktiv nach einem fernen Hause, das von Zeit zu Zeit wie ein Blitz auftauchte und eine tiefe Anziehungskraft auszuüben schien.
    »Horch! Ich unterscheide ein melodisches Thema, das auftaucht und wieder verschwindet, ohne Kraft, sich zu entwickeln ...«
    Stelio blieb stehen, lauschend, mit einer so intensiven Schärfe gespannter Erwartung, daß der Freund ihn staunend betrachtete, als ob er ihn eins werden sähe mit dem Naturphänomen, das er erforschte; als ob er ihn nach und nach sich auflösen sähe in eine umfassende und gewaltige Willenswesenheit, die ihn in sich aufnähme und zu einem Teil ihrer selbst machte.
    »Hast du gehört?«
    »Mir ist es nicht gegeben zu hören, was du hörst« – erwiderte der dem Genius unzugängliche Asket. – »Ich muß warten, bis du mir das Wort wiederholen kannst, das die Natur zu dir gesprochen hat.«
    Beide erzitterten in ihrem innersten Herzen: der eine in klarstem Bewußtsein, der andere unbewußt.
    »Ich weiß nicht« – sagte dieser – »ich weiß nicht mehr ... mir schien ...«
    Die Botschaft, die er in einem flüchtigen Zustand der Unbewußtheit empfangen hatte, schwand jetzt seinem Bewußtsein. Das Ringen seines Geistes begann von neuem; sein eigener Wille erwachte wieder und wand sich in sehnendem Bangen.
    »Ach, wer der Melodie ihre natürliche Einfachheit zurückgeben könnte, ihre naive Vollkommenheit, ihre göttliche Unschuld! Wer sie lebendig aus dem urewigen Quell schöpfen könnte, aus dem eigensten Mysterium der Natur, aus der innersten Weltenseele! Hast du niemals über den Mythos nachgedacht, der sich auf Kassandras Kindheit bezieht? Sie wurde eines Nachts im Tempel des Apoll gelassen; am nächsten Morgen fand man sie auf dem Marmor hingestreckt, eng umwunden von einer Schlange, die ihre Ohren beleckte. Von Stund an verstand sie alle Stimmen in der Luft; sie kannte alle Melodien der Welt. Die Kraft der Seherin war eine musikalische Kraft. Ein Teil dieser apollinischen Kraft ging über in die Dichter, die zur Erschaffung des tragischen Chores zusammenwirkten. Einer dieser Dichter rühmte sich, alle Vogelstimmen zu kennen; und ein andrer, mit den Winden sprechen zu können; und ein dritter, die Sprache des Meeres ganz genau zu verstehen. Oftmals habe ich geträumt, ich läge auf dem Marmor hingestreckt, eng umwunden von jener Schlange...

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