Feuer (German Edition)
Grausamkeit des menschlichen Geschicks, dem ewig gekämpften, sich ewig erneuenden Kampf um ein betrügerisches Ziel.«
»Und hast du jemals bedacht, daß das Wesen der Musik nicht in den Tönen liegt?« -fragte dermystische Doktor. – »Es liegt in dem Schweigen, das den Tönen vorangeht und in dem Schweigen, das ihnen folgt. In diesen Zwischenpausen des Schweigens kommt der Rhythmus lebendig zum Bewußtsein. Jeder Ton und jeder Akkord erweckt in dem Schweigen, das ihm vorangeht und das ihm folgt, eine Stimme, die einzig von unserem Geist vernommen werden kann. Der Rhythmus ist das Herz der Musik, aber dessen Klopfen wird einzig während der Pausen in den Tönen vernommen.«
Dieses Gesetz rein metaphysischer Natur, das der nachdenkliche Beobachter auseinandersetzte, bestätigte Stelio die Richtigkeit seiner eigenen Erkenntnis.
»In der Tat« – sagte er – »stelle dir die Pause zwischen zwei dramatischen Tonstärken vor, in denen sämtliche Motive zusammenkommen, um das innere Wesen der Personen, die im Drama kämpfen, zu charakterisieren und die treibenden Beweggründe der Handlung zu offenbaren, wie zum Beispiel in der Beethovenschen großen Leonoren- oder in der Coriolan-Ouvertüre. Dieses musikalische, vom Rhythmus durchzitterte Schweigen ist wie die lebendige und geheimnisvolle Atmosphäre, in der einzig das Wort der reinen Poesie sich offenbaren kann. Die Personen scheinen hier aus dem Meer von Tönen aufzutauchen, wie aus der Wahrheit des verborgenen Wesens selbst, das in Ihnen wirkt. Und das von ihnen gesprochene Wort wird in diesem rhythmischen Schweigen eine ungewöhnlich starke Resonanz finden und wird die äußerste Möglichkeit der Wirkung der Sprache erreichen, weil es von einem fortwährenden Drängen nach Gesang getrieben wird, das nicht eher Befriedigung findet, als bis am Ende der tragischen Episode die Melodie wieder aus dem Orchester hervorbricht. Hast du mich verstanden?«
»Du verlegst also die Episode zwischen zwei Tonstücke, die sie vorbereiten und sie abschließen, weil die Musik der Anfang und das Ende des menschlichen Wortes ist.«
»Ich bringe so die Personen des Dramas dem Zuschauer näher. Erinnerst du dich der Figur, die Schiller in seiner zu Ehren der Goetheschen Übersetzung des Mahomed verfaßten Ode gebraucht, um darzutun, daß auf der Bühne einzig eine ideale Welt zum Leben erweckt werden kann? Der Thespiskarren ist, wie die Acherontische Barke, zu leicht, um etwas anderes als das Gewicht von Schatten oder von menschlichen Phantasiegebilden zu tragen. Auf der gewöhnlichen Bühne sind diese Gebilde so fern, daß jede Berührung mit ihnen uns so unmöglich erscheint wie die Berührung mit außerweltlichen Vorstellungen. Sie sind uns fern und fremd. Aber wenn ich sie während des rhythmischen Schweigens auftreten lasse, wenn ich sie an die Schwelle der sichtbaren Welt von Musik begleiten lasse, so bringe ich sie in ungeahnter Weise näher, denn ich erhelle die geheimsten Tiefen des Willens, der sie hervorbringt. Verstehst du? Ihr innerstes Wesen liegt da, aufgedeckt und in unmittelbare Wechselwirkung gebracht mit der Seele der Menge, welche durch die von Stimmen und Gebärden ausgedrückten Ideen hindurch die musikalischen Motive fühlt, die in den Tonstücken ihnen entsprechen. Kurzum: ich zeige die auf den Schleier gemalten Bilder und das, was jenseits des Schleiers vorgeht. Verstehst du? Und vermittelst der Musik, des Tanzes und des lyrischen Gesanges schaffe ich um meine Helden herum eine ideale Atmosphäre, in der das gesamte Leben der Natur vibriert; so daß in ihren Handlungen nicht nur die Mächte ihres vorbestimmten Geschicks sich zu vereinigen scheinen, sondern auch die dunkelsten Kräfte der sie umgebenden Dinge, der elementaren Geister, die in dem großen tragischen Kreise leben. Denn ich möchte, daß, so wie die Geschöpfe des Äschylos etwas von dem Naturmythos, aus dem sie hervorgingen, in sich tragen, ebenso meine Geschöpfe empfunden würden, wie sie im Strom wilder Gewalten erzittern, Schmerzen leiden bei der Berührung mit der Erde, eins werden mit Luft, Wasser und Feuer, mit Bergen und Wolken im pathetischen Kampfe wider das Geschick, das besiegt werden muß, und daß die umgebende Natur so erschiene, wie sie von unsern antiken Vorvätern angeschaut wurde: als die leidenschaftliche Schauspielerin in einem urewigen Drama.«
Sie betraten den Campo die San Cassiano, der einsam an dem bleiernen Wasser lag; und Stimmen und Schritte hallten hier, über
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