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Feuer (German Edition)

Feuer (German Edition)

Titel: Feuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele d'Annunzio
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dem dumpfen Tosen, das vom Canal Grande herdrang, deutlich wider, wie in einem Felsenzirkus. Ein violetter Schatten schien aus dem fieberdunstigen Wasser aufzusteigen und sich wie ein totbringender Hauch in der Luft auszubreiten. Der Tod schien seit undenklichen Zeiten von diesem Ort Besitz ergriffen zu haben. An einem hoch gelegenen Fenster schlug ein in seinen Angeln kreischender Laden im Wind gegen die Mauer, als Zeichen von Verlassenheit und Verfall. Aber all diese Erscheinungen erfuhren im Gehirn des Dichters phantastische Umwandlungen. Er sah vor sich eine einsame und wilde Stelle in der Nähe der Gräber von Mykenä, in einer Einsenkung zwischen dem kleineren Vorsprung des Euböa und dem unzugänglichen Abhang der Zitadelle. Inmitten rauhen Felsgesteines und kyklopischer Überreste gediehen kräftig blühende Myrten. Das Wasser des Perseusquells, aus den Felsen hervorsprudelnd, sammelte sich in einem muschelartigen Becken, dem es entfloß, um sich in den steinigen Abgründen zu verlieren. Dicht am Ufersaum lag am Fuße eines Gesträuches der Leichnam des Opfers auf dem Rücken ausgestreckt, starr und weiß. In dem Todesschweigen hörte man das Rauschen des Wassers und das Wehen des Windes in den Myrten, die sich neigten ...
    »An einem erhabenen Ort« – sagte er – »hatte ich die erste Vision meines neuen Werkes: in Mykenä, als ich unter dem Löwentor die Orestie wieder durchlas ... Feuerglühende Erde, Land der Öde und der Raserei, Boden, auf ewig zur Unfruchtbarkeit verdammt durch das Entsetzen des tragischsten Geschicks, das je ein menschliches Geschlecht vernichtete ... Hast du jemals über jenen barbarischen Forscher nachgedacht, der, nachdem er einen großen Teil seines Leben zwischen Drogen und hinter dem Kaufmannstisch hingebracht, sich's zur Aufgabe stellte, die Grabstätten der Atriden in den Ruinen von Mykenä aufzufinden, und der eines Tages (vor kurzem feierte er den sechsten Jahrestag) den großartigsten und wunderbarsten Anblick genoß, der sich je Menschenaugen dargeboten hat? Hast du dir jemals diesen schwerfälligen Schliemann vorgestellt, in dem Augenblick, da er den glänzendsten Schatz entdeckte, den der Tod im dunkeln Schoß der Erde seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden aufgehäuft? Hast du jemals bedacht, daß dieses übermenschliche und schreckliche Schauspiel auch einem andern hätte beschieden sein können: einem jungen, glühenden Geiste, einem Dichter, einem Wecker, dir vielleicht, oder mir? Und dann stelle dir vor, welches Fieber, welche Raserei, welcher Wahnsinn...«
    Er erhitzte sich immer leidenschaftlicher, von seiner Phantasie wie von einer Sturmwolke fortgerissen. Seine Seheraugen leuchteten wieder von den Grabesschätzen. Wie das Blut zum Herzen, strömte Schöpferkraft seinem Geiste zu. Er war der Held seines Dramas: sein Akzent und seine Gebärde waren von transzendentaler Schönheit und Leidenschaft, die die Macht des gesprochenen Wortes, die Grenzen der Schrift weit übertrafen. Sein Gefährte hing an seinen Lippen, zitternd vor dieser plötzlich hervorbrechenden Pracht, die sein Ahnen bestätigte.
    »Stelle dir vor! Stelle dir vor! Die Erde, die du durchsuchst, ist unheilschwanger: es scheint, als müßten die Ausdünstungen jener ungeheuerlichen Verbrechen noch daraus emporsteigen. Der Fluch, der auf den Atriden lastete, war so grimmig, daß es wirklich scheint, als müsse irgendeine noch immer verderbliche Spur davon zurückgeblieben sein in dem Staub, den sie unter ihre Füße traten. Der Fluch hat dich ereilt. Die Toten, die du suchst und die du nicht finden kannst, erwachen in deinem Innern zu gewaltsamem Leben, sie atmen in dir mit dem bebenden Atem, den Aschylos ihnen eingehaucht hat, ungeheuerlich und blutig, wie sie dir in der Orestie erschienen sind, erbarmungslos vom Feuer und Schwert ihres grausen Geschicks vernichtet. Und nun nimmt das ganze ideale Leben, mit dem du dich genährt hast, in dir Gestalt und Form der Wirklichkeit an! Und hartnäckig unternimmst du es, in diesem Lande der Dürre, am Fuß der nackten Berge, befangen vom Zauber der toten Stadt, die Erde aufzugraben, immer tiefer aufzugraben, inmitten des glühenden Sandes immer jene schreckhaften Spukgestalten lebendig vor Augen. Bei jedem Spatenstich zitterst du am ganzen Körper, in der ängstlichen Erwartung, das Antlitz eines Atriden könne wirklich zum Vorschein kommen, unversehrt, mit den noch sichtbaren Zeichen der erlittenen Gewalt, des grauenhaften Mordes... Und jetzt, jetzt

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