Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns
half mir aufzustehen. »Gehen Sie bitte auf einer geraden Linie, setzen Sie immer einen Fuß vor den anderen«, bat er.
Nachdem ich eine Minute darüber nachgedacht hatte, begann ich ruckartig zu gehen, jedoch mit kurzen Pausen zwischen den Schritten. Ich hatte einen Linksdrall – Dr. Najjar notierte, dass ich Zeichen von Ataxie, also eine gestörte Bewegungskoordination, zeigte. Ich ging und sprach wie viele seiner Alzheimer-Patienten im Spätstadium, die ihre Fähigkeit verloren haben zu sprechen und mit ihrer Umgebung angemessen zu interagieren, bis auf kurze Ausbrüche unkontrollierter, abnormer Bewegungen. Sie lächeln nicht, blinzeln kaum und bleiben unnatürlich starr, mit einem Fuß fest in einer anderen Welt verwurzelt. Und dann hatte er eine Idee: den Uhrentest. Obgleich dieser Uhrentest bereits Mitte der 1950er-Jahre entwickelt worden war, hatte er erst 1987 Eingang gefunden in das Diagnostic and Statistical Manual of mental Disorder (DSM) der American Psychiatric Association. Er wird genutzt, um Problembereiche im Gehirn bei Patienten mit Alzheimer, Schlaganfall und Demenz zu diagnostizieren.
Herr Dr. Najjar legte mir ein leeres Blatt Papier vor, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte, und sagte: »Würden Sie bitte eine Uhr für mich zeichnen und alle Zahlen von 1 bis 12 eintragen?« Ich sah ihn verwirrt an. »So, wie Sie sich daran erinnern, Susannah. Es muss keine perfekte Zeichnung sein.«
Ich sah den Arzt an und dann wieder das Papier. Den Stift hielt ich kraftlos in der rechten Hand wie einen Fremdkörper. Zuerst zeichnete ich einen Kreis, dessen Seiten jedoch ungleich und dessen Linien zu schnörkelig waren. Ich bat um ein neues Blatt. Er riss ein weiteres Blatt für mich heraus und ich versuchte es erneut. Dieses Mal nahm der Kreis Form an. Da das Zeichnen eines Kreises aus dem prozeduralen Gedächtnis kommt (das auch bei dem berühmten Amnesie-Patienten H. M. noch intakt gewesen war), also ein Vorgang ist, der sich durch wiederholtes Lernen eingeprägt hat wie Schuhebinden, haben Patienten es so häufig gemacht, dass sie nur selten damit scheitern. Es überraschte ihn daher nicht, dass ich den Kreis beim zweiten Mal relativ mühelos zeichnete. Ich zeichnete den Umriss des Kreises einmal, zweimal und ein drittes Mal nach, man nennt dies perseverative Dysgrafie, eine Störung, bei der ein Patient Linien oder Buchstaben immer wieder nachfährt. Dr. Najjar wartete gespannt auf die Zahlen.
»Tragen Sie jetzt die Zahlen in der Uhr ein.«
Ich zögerte. Er konnte sehen, wie ich mich anstrengte, um mich daran zu erinnern, wie eine Uhr aussah. Ich beugte mich über das Papier und begann zu schreiben. Systematisch schrieb ich die Zahlen. Häufig verharrte ich bei einer Zahl und zeichnete sie mehrmals nach: ein weiteres Zeichen für perseverative Dysgrafie.
Nach kurzer Zeit schaute Dr. Najjar auf das Papier und hätte beinahe applaudiert. Ich hatte alle Zahlen, von 1 bis 12, auf die rechte Hälfte der Uhr gequetscht. Es war ein perfektes Musterstück, bei dem die zwölf fast genau dort stand, wo die sechs hätte stehen müssen.
Wiedergabe meiner Uhr-Zeichnung
Strahlend griff Dr. Najjar nach dem Papier, zeigte es meinen Eltern und erklärte, was es zu bedeuten hatte. Sie atmeten hörbar mit einer Mischung aus Schrecken und Hoffnung ein. Hier war endlich der Hinweis, nach dem alle gesucht hatten. Dazu waren keine raffinierten Instrumente oder invasiven Untersuchungen erforderlich, lediglich ein Blatt Papier und ein Stift. Die Zeichnung hatte Dr. Najjar den konkreten Nachweis geliefert, dass meine rechte Gehirnhälfte entzündet war.
Das gesunde Gehirn ermöglicht das Sehen durch einen komplexen Vorgang, der beide Gehirnhälften einbezieht. Zuerst werden bestimmte Rezeptoren in der Retina (Netzhaut) aktiviert, die Information wird durch das Auge und die Sehbahnen weitergeleitet zur primären Sehrinde, die sich im hintersten Teil des Großhirns befindet. Dort wird sie zu einer einzigen Wahrnehmung, die vom Parietal- und Temporallappen weiterverarbeitet wird. Der Parietallappen liefert uns Informationen über das Wo und Wann des Bildes, sodass wir uns in Zeit und Raum zurechtfinden. Der Temporallappen liefert das Wer, Was und Warum und steuert unsere Fähigkeit, Namen, Gefühle und Erinnerungen zu erkennen. In einem defekten Gehirn jedoch, bei dem eine Hälfte nicht richtig arbeitet und der Informationsfluss behindert ist, entstehen schiefe Bilder.
Da das Gehirn seitenverkehrt arbeitet, das heißt
Weitere Kostenlose Bücher