Feuer: Roman (German Edition)
Katastrophe. Einerseits war er auf eine unbestimmte Art erleichtert darüber, aber zugleich begann er sich auch immer mehr und mehr zu fragen, was zum Teufel er eigentlich jetzt tun sollte. Zurück konnte er nicht. Selbst wenn er wartete, bis die Männer ihre Arbeit beendet hatten und gegangen waren – was durchaus den ganzen Tag dauern konnte, wenn er Pech hatte –, dann wartete oben immer noch die Polizei auf ihn. Und weitergehen?
Will betrachtete missmutig die Lampe, die ihm der Mann gegeben hatte. Sie brannte ruhig und ohne das geringste Flackern, aber selbst wenn die Batterien frisch geladen waren, konnten sie nicht allzu lange halten, so stark, wie der Scheinwerfer war. Vielleicht eine halbe Stunde, schätzte er, wohl kaum mehr. Geschichten von Menschen, die sich hier unten verirrt hatten und nie wieder aufgetaucht waren, gehörten zwar eher ins Reich der Schauermärchen, vermutete Will, aber die Vorstellung, möglicherweise stundenlang in vollkommener Dunkelheit hier unten herumzuirren, bis er einen Ausgang fand, hatte auch nicht besonders viel Erbauliches.
Will begriff, dass seine Fantasie schon wieder drauf und dran war, kräftig über die Stränge zu schlagen, und rief sich innerlich zur Ordnung. Das hier war schließlich ein Teil der Kanalisation, und die zog sich nicht nur unter der ganzen Stadt entlang, sondern musste buchstäblich zahllose Zugänge haben, weil sie sonst nämlich ziemlich sinnlos gewesen wäre. Wahrscheinlich musste er einfach nur lange genug geradeaus gehen, um einen Ausstieg zu finden. Die einzige Gefahr, mit der er hier unten zu rechnen hatte, bestand vermutlich aus der Begegnung mit ein paar Ratten und dann, sich seinen Anzug zu versauen.
Aber zumindest darin hatte er ja mittlerweile eine gewisse Übung.
Immerhin war das unheimliche Gefühl verschwunden, dass irgendetwas in dieser Dunkelheit war, das nicht dorthin gehörte, dachte Will. Man musste die Sache eben positiv sehen.
Er schaltete die Lampe aus, senkte die Lider und zählte in Gedanken bis zehn, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es funktionierte. Als er die Lider wieder hob, war die Dunkelheit vor ihm nicht mehr komplett. In fast regelmäßigen Abständen fiel graues Licht von der Decke. Ohne die Lampe wieder eingeschaltet zu haben, ging er zu dem ersten dieser unsicheren Stützpfeiler aus Licht und wurde mit dem Anblick dreckstarrender Metallsprossen belohnt, die in die Wand eingelassen nach oben führten. Er legte die Lampe auf den Boden, griff leicht angeekelt zu und kletterte nach oben, und in diesem Moment wurde es schwarz vor seinen Augen …
… und als ich auf Gernot zugehen wollte, trat mir dieser in den Weg und hob die Kerze höher. Ihr flackerndes Licht züngelte nach mir, die Flammen leckten mir über Hals und Kinn, doch ich spürte es kaum. »Maria«, brachte ich mühsam hervor.
Der Lichtschein biss in meine Augen, so dass ich kaum zwei Schritte weit sehen konnte, und doch ließ mir das wenige, was ich am anderen Ende des Kellers gewahrte, das Blut in den Adern gefrieren. Eine stattliche, um nicht zu sagen dicke und ungemein kräftige Frau hatte Marias Arme nach hinten gebogen und drückte das arme Kind nach unten.
»Keinen Schritt weiter«, zischte Gernot. »Oder wir machen von unseren Waffen Gebrauch.«
Ich wäre wahrscheinlich doch nach vorne gestürmt, wenn nicht die dicke Frau den Kopf geschüttelt hätte und mir das kurze Aufblitzen in ihrer rechten Hand gezeigt hätte, dass sie das Kunststück vollbracht hatte, dort neben einer Kerze auch ein mit der Klinge nach unten zeigendes Messer zu umklammern. »Die Hexe wird das bekommen, was ihr zusteht«, sagte sie mit tiefer, rauchiger Stimme. »Und wenn du uns versuchst daran zu hindern, dann werden wir auch mit dir kurzen Prozess machen.«
Will hielt sich eine ganze Weile an den Metallsprossen fest, bis sich das Zittern seiner Hände und das Flackern vor seinen Augen wieder halbwegs beruhigt hatten. Maria … Dieser Name löste einen merkwürdigen Nachhall in ihm aus. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Teil des mittelalterlichen Stadtbrands geglaubt hatte mitzuerleben, aber es war das erste Mal, dass er Zeuge der Szene in dem Keller neben dem Obertor geworden war. Als er begriff, was er da dachte, hätte er vor lauter Schreck beinahe den Halt verloren. Zeuge geworden … was für ein Unsinn. Wenn er hier wieder raus war, sollte er sich Gedanken machen, was mit ihm los war. Tagträumerei war eine
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