Feuer: Roman (German Edition)
zweimal hinsehen, um es überhaupt zu erkennen, und sie taten nicht sehr weh, aber allein der Anblick reichte, um Will klar zu machen, wie nahe er dem Tod gewesen war. Reimann hatte keine anderthalb Meter hinter ihm gestanden, als sich der Boden unter ihm auftat, um ihn zu verschlingen. Hätte er sich nur eine Sekunde eher zu ihm herumgedreht …
Will schüttelte die Erinnerung ab, drehte den Wasserhahn zu, warf einen flüchtigen Blick auf das schmuddelige Handtuch und entschied dann, sich die Hände an der Hose abzutrocknen. Viel verderben konnte er ohnehin nicht mehr. Sein Gesicht hatte vielleicht nicht viel abbekommen, seine Kleider dafür umso mehr. Wenn er sich bisher überhaupt der Illusion hingegeben hatte, unauffällig bis hierher gekommen zu sein, so zerplatzte sie spätestens nach diesem ersten Blick in den Spiegel. Er fuhr sich noch einmal mit den feuchten Händen übers Gesicht, versuchte das, was von seinem Haar noch übrig war, irgendwie zu ordnen, und wandte sich dann zur Tür. Sein Blick glitt noch einmal flüchtig durch das kleine, heruntergekommene Zimmer. Zwanzig Jahre alte Textiltapeten, deren Farben schon vor einer Dekade verblasst und die überall an den Nähten aufgeplatzt waren, abgewetztes Linoleum auf dem Boden und überall fadenscheinig gewordener Plüsch – und das war der einzige Ort in dieser ganzen Stadt, zu dem er überhaupt noch gehen konnte. Und um das Maß voll zu machen, dachte er resignierend, würde ihm Georg diese Nacht garantiert gepfeffert in Rechnung stellen.
Er verließ das Zimmer, wandte sich nach links und ging die steile Treppe ins Erdgeschoss hinab. Im Treppenhaus war es dunkel. Es gab keine Fenster, und Will war oft genug hier gewesen, um sich den Griff zum Lichtschalter sparen zu können. Trotzdem wäre er auf dem Weg nach unten um ein Haar gestürzt, als sein Fuß eine der schmalen Stufen verfehlte und die nächste Stufe ein gutes Stück tiefer lag, als sie es eigentlich sollte. Er streckte hastig die Arme nach rechts und links aus und fing den Sturz auf diese Weise ab, rutschte aber trotzdem aus und landete reichlich unsanft auf dem Hinterteil. Es tat nicht einmal besonders weh, aber er konnte einen Fluch nicht mehr völlig unterdrücken, und aus den Halbschatten am unteren Ende der Treppe antwortete ein gedämpftes Lachen.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lange ich auf diesen Anblick gewartet habe – dich zum Umfallen erschöpft aus einem meiner Séparées kommen zu sehen!«
»Sehr witzig«, knurrte Will. Er arbeitete sich mühsam hoch und ging weiter, allerdings erst, nachdem er sich pedantisch davon überzeugt hatte, dass er diesmal auch wirklich aus eigener Kraft gehen konnte. Mühsam erreichte er die letzte Stufe, und seine Knie zitterten, als hätte er einen Fünf-Kilometer-Lauf hinter sich gebracht. Anscheinend waren achtzehn Stunden Schlaf am Stück doch nicht das Wahre.
Georg wich zwei Schritte zurück, als hätte er Angst, Will könnte im letzten Moment doch noch das Gleichgewicht verlieren und auf ihn fallen. Sein Gesicht lag in denselben weichen Schatten verborgen, die sich über die gesamte Bar ausgebreitet hatten, so dass Will es nicht richtig erkennen konnte, aber er spürte trotzdem, dass Georg ihn sehr aufmerksam musterte; deutlich angespannter auf jeden Fall, als er nach seiner flapsigen Begrüßung erwartet hätte.
Er schien darauf zu warten, dass Will irgendetwas Bestimmtes sagte oder tat. Als dieser einfach nur dastand und ihn anblickte, wobei er sich vorsichtshalber mit der rechten Hand an dem fadenscheinigen Samtvorhang festhielt, der das schmale Treppenhaus von der eigentlichen Bar trennte, deutete Georg ein Achselzucken an, drehte sich herum und bedeutete Will mit einer knappen Geste, ihm zu folgen. Die Handbewegung hatte etwas Befehlendes an sich, fand Will, etwas, worauf er unter normalen Umständen ziemlich allergisch reagierte, aber er schob diesen Eindruck auf das offensichtlich gerüttelte Maß an Paranoia, das er zu entwickeln begann, und folgte Georg.
Sie durchquerten die Bar, in der es nicht nur halb dunkel, sondern auch ungewohnt ruhig war. Will hatte sie selten so erlebt wie jetzt, obwohl es weiß Gott nicht das erste Mal war, dass er sich außerhalb der normalen Öffnungszeiten hier befand. Ganz im Gegenteil kam er meistens hierher, wenn die Bar eigentlich geschlossen hatte. Dennoch kam es selten vor, dass Georg allein war – wenn er es recht bedachte, hatte er ihn eigentlich noch nie ohne mindestens einen der
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