Feuer um Mitternacht
Schnell, verschwinde! Ich höre Jumbos Schritte. Oder möchtest du mit ihm reden?“
„Fällt mir nicht ein!“ sagte ich und war mit vier Schritten um die Hausecke herum.
Ich machte kein Licht im Zimmer an.
Drüben bei Tante Lene war die ganze Fensterreihe erleuchtet. Im Gästezimmer — in seinem Zimmer brannte Licht!
Vom Dachboden bis zum Keller kannte ich dort drüben jeden Winkel und jedes Möbelstück, kannte mich ebensogut aus wie in unserem eigenen Haus.
Jetzt ging im Gästezimmer das Licht aus. Tante Lenes Fenster wurden dunkler: Sie hatte die elektrische Lampe ausgeknipst und saß nun bei Petroleumlampenschein. Das tat sie oft, wenn sie nicht gerade lesen wollte.
Ich stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank und stellte das Fernglas ein. Würde Kriminalobermeister Bank ausgehen? Oder wollte er mit Tante Lene sprechen?
Seine Fenster blieben dunkel. Zum Schlafengehen war es noch zu früh. Fünf Minuten wartete ich, das Glas vor den Augen. Aber er tauchte nicht in der Haustür auf. Also saß er bei Tante Lene in der Wohnstube. Sehen konnte ich die beiden nicht; ihre Petroleumlampe verbreitete nicht genug Licht.
Ich konnte mich an die Arbeit machen.
Ich zog meine Vorhänge zu, schaltete die Lampe ein. Am besten, ich erledigte es auf einem Zeitungsblatt...
Mutter saß in der Wohnstube vor dem Fernseher.
„Bist du mit deinen Schularbeiten fertig?“ fragte sie.
„Bin gerade beim Rest“, antwortete ich. „Mathematik — muß ein paar Dreiecke konstruieren. Ich will lieber eine Zeitung unterlegen. Die Ausziehtusche schmiert so.“ Das war eine ziemlich lahme Erklärung. Aber Mutter prüfte sie bestimmt nicht nach. Mutter hatte viel für Sauberkeit übrig. „Ist gut“, sagte sie. „Laß es nicht zu spät werden.“
Ich breitete ein Doppelblatt auf meinem Tisch aus und legte das aufgeklappte Bordmesser daneben. Dann schloß ich die Tür ab. Falls Mutter an die Klinke fassen sollte, konnte ich immer noch sagen, ich hätte den Schlüssel gedankenlos herumgedreht.
Vom obersten Bücherbord langte ich mir die Vase herunter und schüttelte die große, halbe Kartoffel auf das Papier. Sie war verschrumpelt, kurz vor dem Verfaulen, fühlte sich gummiartig an. Die Schnittebene wölbte sich nach innen, und das schmutzig-rötliche Etwas war kaum mehr als Hahn zu erkennen. Der Druckstempel für den dritten und letzten Hahn! Es war ein schlechter Hahn — schlecht, weil ich ihn fabriziert hatte. Sylvie konnte es besser. Warum hatte ich den Stempel überhaupt aufbewahrt? Ich wußte es nicht mehr. Ich wußte nur, daß ich ihn mir jetzt schnell vom Hals schaffen mußte! Und die Karte mußte auch verschwinden! Ich zog den Duden aus der Bücherreihe heraus, ließ von hinten die Seiten durch die Finger rieseln, bis ich bei H den Hahn fand. Die Karte lag zwischen den Seiten „Hahn“ und „Hammer“ — genau dort, wo ein Hahn hingehört. Die Zeit für Späße war vorbei. Die Karte mußte den gleichen Weg gehen wie die Kartoffel.
Und die Kartoffel zerschnitt ich in kleine Würfel. Aus der Karte mit Sylvies rotem Hahn machte ich Schnipsel. Dann trug ich das Häufchen auf der Zeitung in die Toilette, schüttete auch die letzte Krume ins Becken, spülte zweimal nach.
Jetzt konnte Herr Bank gern kommen und mein Zimmer durchsuchen. Rote Hähne gab es bei mir nicht mehr.
Ich hätte es auch anders machen, die Karte verbrennen und die Kartoffel im Garten verscharren können. Vielleicht wären neue Kartoffeln draus geworden — auch halbe Kartoffeln treiben oft aus. Aber so hatte ich alles in einem Arbeitsgang erledigt.
Morgen mußte ich Sylvie davon erzählen. Sie hatte ein Recht darauf: Sie hatte nämlich den roten Hahn entworfen, ihn mit ihren geschickten Fingern in die Kartoffel geschnitten und die Karten gestempelt.
Sylvie wollte überhaupt alles von meinen nächtlichen Abenteuern erfahren. Jede Kleinigkeit mußte ich ihr berichten: wie die Blätter raschelten... Ob eine Katze miaut hatte... Wen ich alles gesehen hatte... Ob mein Herz klopfte, wenn ich mich vor einer plötzlich auftauchenden Gestalt hinter den nächsten Wall werfen mußte... Nicht selten erfand ich noch etwas dazu, schilderte alles unheimlicher und aufregender, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hatte. Aber um nichts in der Welt hätte ich sie überreden können, mit mir in Hageldorns Kastanie zu steigen. Ihr erzählte ich gern... Sie rückte nahe an mich heran...
Vielleicht tat ich es doch nicht nur aus Rache — auch Sylvie zuliebe war
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