Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
Fettzuber. »Und, wo habt ihr euch kennengelernt?«
Schlagartig ist wieder der karibische Rötungsgrad erreicht.
»In der Tiefgarage meiner Firma«, informierte Andrew den taktlosen Vamp. »Sie ist in mich hineingelaufen.«
Andrews nuttige Schwester lacht. »Ein Unfall, hmmm ... Na ja, also ich bin trotzdem froh.«
»Ich auch.«
Josie hat die karibische Phase hinter sich gelassen und marschiert zielgerichtet auf die marokkanische zu. Er nimmt ihre Hand. »Wo ist Julia?«
Claudia hebt die Schultern. »Keine Ahnung. Sie ist heute schon den ganzen Tag seltsam.«
»Julia ist immer seltsam!«, widerspricht Andrew grinsend.
Doch sie schüttelt den Kopf. »Nein, sie ist anders. Niedergeschlagen ...«
Niedergeschlagen? Julia? Erstaunt schaut er zum Esstisch, aber seine kleine Koboldschwester ist verschwunden. Das ist noch um einiges verwunderlicher. So wie er gekonnt seine Komödie aufführt, wenn er bei seiner Familie zu Gast ist, so ist seine Lieblingsverwandte zuverlässig freundlich. Er braucht sie, um das Dauergrinsen, das sich auf sein Gesicht schweißt, sobald er durch die Tür tritt, aufrechterhalten zu können. Dieser Besuch findet total außerplanmäßig statt. Sonst muss er die grauenhafte Prozedur nur an vier Tagen innerhalb von zwölf Monaten überstehen, nicht an fünfen. Und er ist momentan nicht gerade hoch konzentriert.
Julia ist nicht niedergeschlagen. Das ist Gesetz. In den einundzwanzig Jahren ihres Lebens hat er sie noch nie so erlebt. Der Katalog seiner Beobachtungsposten erweitert sich um einen weiteren Punkt.
Auf Julia achten ...
Das Mahl verläuft ohne Zwischenfälle – mit einer Ausnahme.
Stephen tranchiert den Braten, während Sarah den weiblichen Gast über deren Eltern ausfragt. Josie scheint sich in der Zwischenzeit etwas entspannt zu haben. Andrew hat die anderen nicht darüber informiert, dass sie seine Assistentin ist. Ihm ist es egal und Josie hätte sich in Grund und Boden geschämt.
Enkel Hargreve – Austin – hat den Wink offenbar verstanden. Er meidet das Thema nämlich ebenso entschlossen. Die Holding kommt nur beiläufig ins Gespräch, als Stephen sich nach Andrews Plänen in Südostasien erkundigt. Die Einzige, die sich seltsam verhält, ist Julia. Das verblüfft Andrew. Denn als sie ihn im Auto begrüßte, verhielt sie sich wie gewohnt. Auch dass sie ihn auf der Treppe erwartete, war nichts Neues. Er hätte sich gewundert, wäre es anders gewesen. Doch nun sitzt sie mit gesenktem Haupt zwischen Austin und Claudia und stochert missmutig in ihrem Essen herum. Das passt ihm gar nicht. Langsam gehen ihm nämlich die unverfänglichen Themen aus. Unternimmt sie nicht bald etwas, wird sein Grinsen nicht mehr besonders überzeugen.
Diese Maskerade war irgendwann notwendig geworden.
Als er vierzehn oder fünfzehn war, begannen Stephen und Sarah, Andrew verstärkt mit diesem Pflegefallblick zu betrachten. Es war genau der Gleiche und mindestens ebenso nervend, wie jener, den er jetzt häufig bei Josie bewundern darf. Das allein hätte ihn nicht dazu bewogen, den heiteren Mr. Sunshine zu kreieren. Doch es kam schlimmer. Eines Abends fingen sie ihn auf dem Weg zu seinem eigenen kleinen Reich ab, und baten ihm mit besorgten Mienen ins Wohnzimmer.
Zögernd erklärten sie ihm dort, sie seien der Ansicht, er wäre zu ernst und in sich gekehrt. Ob er irgendwelche Probleme habe? Eilig versichert Andrew ihnen, alles sei in bester Ordnung. Aber der Pflegefallblick blieb. Claudia nahm ihn damals beiseite und flüsterte ihm mit großen, dramatischen Augen zu, dass seine Eltern planen, ihn zu einem Therapeuten zu schicken. Er war sicher, dass sie keinen Schimmer hatte, was das bedeutete. Doch er wusste es umso besser. Der DS hörte gleich die apokalyptischen Glocken läuten und holte zum Rundumschlag aus.
Das war die Geburtsstunde des fröhlichen, unbeschwerten Andrews. Er hätte es über all die Jahre jedoch nie ohne seine jüngere Schwester geschafft – nicht mit der ständigen Müdigkeit im Nacken. Julia war diejenige, die schon früh begriff, dass sein Grinsen um jeden Preis aufrechterhalten werden muss. Gleichfalls ist sie die einzige Person, der bekannt ist, dass Andrew überhaupt eine Maskerade zur Schau trägt. Unzählige Abende verbrachte er mit Julia in seinem Bett. Schweigend. Sie am Fuß– und er am Kopfende. Damals war sie noch ein kleines Mädchen, aber eindeutig clever. Bedeutend aufgeweckter als ihre aufgedonnerte, schlampige, verhurte Schwester.
Sie fragte nie –
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