Feueraugen I. Das Dorf
Fera war ..."
"Halt!" unterbricht Baldwin jetzt aufgebracht. "Keine weiteren Geschichten. Das klingt nach einer längeren Erklärung! - Kinder, wir müssen uns um Rodolphe kümmern. Seit Stunden ist er verschwunden und wir sitzen hier, fressen uns die Bäuche voll, saufen und ..." er stockt und sieht dabei in Richtung Michel und Emma, "... wir müssen los. Mein lieber Krämer, die Geschichte der alten Hexe hören wir uns später an. Kommt, wir packen die Sachen weg."
"Das ist wie Musik in meinen Ohren." Zeramov klappt seinen Notizblock zusammen und steckt ihn in die Jackentasche. "Wo fangen wir an, Chef? Bei der Hütte der Lucy Fera?"
"Wieso das denn?"
"Vielleicht finden wir unter ihren Habseligkeiten noch ein Schriftstück, das uns weiter bringen kann." meint X und errät damit wohl Zeramovs Gedanken.
"Verdammt, das könnte sein! - Erzählen Sie uns auf dem Weg dorthin die Story dieser Frau, Krämer. Kommen Sie zu mir in den Wagen."
Baldwin treibt alle zur Eile an. Sie haben getrödelt und das verzeiht er sich jetzt nicht. Sein treuer Rodolphe ...!
Der Krämer steigt zu Baldwin und Zeramov auf die Rückbank des Mercedes und weist den Weg. Während der Fahrt erzählt er die Geschichte der Lucy Fera.
-6- Lucy Feras Hütte
Die kurze Fahrt über erzählt der Krämer eine –wie er sagt- recht gestraffte Version der Lebensgeschichte Lucy Feras, die als Findelkind beim damaligen Dorfpfarrer unterkam, immer nur Lucy gerufen wurde und als ein lebensfrohes, nettes, auffällig hübsches Mädchen heranwuchs. Die Liebe zu einem jungen Mann aus dem Nachbardorf geriet dann zum Desaster. Das junge Paar unternahm einen Ausflug in einer Kutsche. Vor einem aufziehenden Unwetter suchten sie Schutz unter einem mächtigen Baum, der vom Blitz getroffen wurde. Ein herabfallender, brennender Ast traf die Kutsche und klemmte den jungen Mann ein. Lucy musste mit ansehen, wie ihr Geliebter bei lebendigem Leib verbrannte. Das Mädchen verlor bei diesem Drama wohl den Verstand, und obwohl ihr Ziehvater, der Pfarrer, alles versuchte – zuletzt konnte er eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt nicht mehr verhindern. Fast drei Jahrzehnte hatte man von Lucy nichts mehr gehört, als sie eines Tages im Dorf auftauchte. Sie nannte sich jetzt Lucy Fera und führte ihre Abstammung zurück auf die Ferrs, einem uralten Seitenzweig der Tu Gents, aus der Linie des älteren Bruders. Ganz ohne jegliche Hilfe aus dem Dorf baute sie sich unter ihrem Schicksalsbaum –einer mächtigen Eiche, deren Skelett noch immer an der Stelle stand, an der ihr Geliebter in der Kutsche verbrannt war- eine kleine Hütte, in der sie bis zum heutigen Tag gelebt hatte – gemieden von allen im Dorf bis auf den Krämer, von dem sie manchmal ein paar Utensilien für ihren Haushalt geschenkt bekam. Als Hexe verschrien, von der Dorfgemeinschaft gemieden, völlig auf sich selbst gestellt, war sie fast hundert Jahre alt geworden.
"Erstaunlich!" Zeramov hat sich Stichpunkte zu dieser Geschichte gemacht. Jetzt sitzt er da und überlegt. "Sie war noch immer gut drauf. Hätte sie Nagor nicht erwürgt ... wahrscheinlich wär' sie noch viel älter geworden."
* * *
Dalia ist nicht gerade das, was man eine leidenschaftliche Spaziergängerin nennen würde. Aber auch sie muss der alten Frau Respekt zollen, wenn sie bedenkt, wie weit draußen vor dem Dorf sie gewohnt hat. Ganz klein erkennt man über einigen flachen Dächern die Spitze der Dorfkirche – es mag zu Fuß ein Weg von einer knappen Stunde dahin sein. Nichts für die schicke Eurasierin, der oft genug der Weg über die Rolltreppen zu den diversen Etagen eines Nobel-Kaufhauses schon zu weit ist.
Der Krämer hat ihnen kurz nach der Ankunft bei der Hütte unter der mächtigen Eiche angedeutet, dass keiner im Dorf wusste, wovon sie eigentlich gelebt hat.
"Aber irgendwie muss sie sich ja wohl etwas zu Essen beschafft haben. Und wenn sie auch jeden Tag nur Beeren und Kräuter gesammelt haben sollte." sagt X.
Die Anlage ihrer Behausung beeindruckte die Mannschaft. Eine solide gezimmerte, etwa zehn Quadratmeter große, kaum mannshohe Hütte schmiegt sich unter zwei riesigen, weit ausladenden Ästen an den Stamm des uralten Baumes – und alles selbst gezimmert, wie sie wissen.
Die Szenerie hat trotz aller Bewunderung für die Leistung der nach Jahren in der Heilanstalt Zurückgekehrten etwas Befremdliches. Ein großer Teil der Eiche ist abgestorben, doch treibt er an vielen
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