Feuerflügel: Roman (German Edition)
hast du die wahnsinnige Macht genossen, deine Feinde zu töten, eine ganze Art auszulöschen?“
„Was hätte ich tun können?“, wollte Schatten wissen. „Du hättest sie fangen können, du hättest wenigstens ihre Flugbahn ablenken können.“
Hätte ich das? Schattens Gedanken arbeiteten fieberhaft. Eine Million Leben. Hätte er Klang benutzen können, um die Scheibe fest genug anzustoßen, damit sie die Pyramide verfehlte?
Vielleicht, vielleicht!
Aber er war in schrecklicher Zeitnot gewesen. Erschöpft und schwach. Die Kannibalen hatten versucht, ihn zu töten, seinen Vater, hundert Gefangene, die nur darauf warteten, geopfert zu werden. Sollte er sich überhaupt schuldig fühlen? Dann dachte er an Smog und spürte einen Anflug von Scham.
„Auch du bist auf deine Weise ein Mörder“, insistierten die Köpfe von Cama Zotz zischend. „Bist du deswegen gut oder böse?“
„Es war Notwehr“, erwiderte er schwach.
„Ja. Du gibst es endlich zu. Du hast getötet. Und du würdest es wieder tun, gerade so, wie du soeben Goth getötet hättest wenn nötig. Überleben. Etwas, was uns allen gemeinsam ist, sogar einem Gott. Deshalb bemühen wir uns. Deshalb werde ich Nocturna mich nicht länger verfolgen lassen. Wenn nötig, werde ich sie stürzen. Das beunruhigt dich. Aber frage dich selbst. Wer liebt seine Geschöpfe mehr, ich oder Nocturna?“
„Nocturna hat alles geschaffen“, sagte Schatten.
„Sie hat geholfen, die Schöpfung in Gang zu setzen“, korrigierte ihn Zotz. „Aber das ist auch alles. Ihre Rolle ist beendet. Sie ist die Schöpfung. Aber ich, ich bin der Stärkere. Ich habe sie getötet. Und ich habe mir größere Mühe gegeben. Ich habe diesen Ort aus nichts geschaffen. Ich habe diese Welt zur Existenz gesungen, jeden kleinsten Teil von ihr, jede Sekunde von ihr. Für meine eigenen Geschöpfe, die Vampyrum, habe ich eine Stadt und einen Dschungel gemacht schöner als alles, was sie in der Oberwelt gehabt haben. Tempel und Plätze und einen Regenwald, die ich für sie gemacht habe, Stein für Stein, Ranke für Ranke. Für die anderen Toten habe ich ihre Wünsche gesponnen. Ja, ich will, dass sie hier in meinem Reich bleiben. Ich gebe ihnen einen Ort der Ruhe, statt Unzufriedenheit und Verwirrung zu stiften wie die Pilger, die sie auf eine weitere ängstliche Reise schicken, auf der sie Nocturnas Pläne zu ergründen suchen! Ich habe diesen Ort für sie geschaffen mit nichts als Klang!“
„Klang“, hauchte Schatten.
„Ja“, sagte Zotz. Seine Köpfe reckten sich stolz. „Vor mir war dieser Ort nur eine Leere. Und ich habe sie gefüllt für meine Untergebenen. Ich bin die Unterwelt.“
Schatten blickte sich erstaunt um. Nur Klang.
Der Stein, das Holz, das Metall. Der ganze Glockenturm, der ihn einschloss.
Nichts als Klang?
Es übertraf fast sein Vorstellungsvermögen. Klang, der so dicht war, so überzeugend, dass er vor seinem inneren Auge Gestalt annahm, vollkommen feste Gegenstände, so wirklich wie alles, was er je gekannt hatte. Wie konnte das nur Klang sein?
„Es ist überzeugend, nicht wahr?“, sagte Zotz. „Es ist makellos.“
„Ja“, murmelte Schatten, aber zu sich selber sprach er: Schau genauer hin.
Ganz allmählich veränderte er die Tonhöhe seines Klangstrahls, schärfte ihn, formte ihn zu einer Spitze. Er zielte auf die Steinmauer, bohrte mit Klang in sie hinein und sah, wie die Blöcke ein ganz klein wenig schimmerten, wie Wasser, das von einer Brise berührt wird.
Zum ersten Mal seit Stunden spürte er wieder einen Hoffnungsstrahl. Während Schweiß auf dem Fell der Stirn juckte, bohrte er tiefer und fester, meißelte mit Klang den Mörtel um einen großen Block weg. Mit einem knirschenden Kratzen kippte der Stein und fiel dann herunter.
Erschrocken öffnete Schatten die Augen und starrte hin. Ein Teil der Mauer war verschwunden und ließ eine Flut von Sternenlicht herein. Er sah, wie die Köpfe von Zotz sich aufrichteten auf ihren schlangenartigen Hälsen, zu der beschädigten Mauer eilten und sie konsterniert betrachteten.
Schatten flog auf das Loch zu. Zotz wirbelte herum, die drei Köpfe mit offenen Mäulern, und versperrte ihm den Weg. Schatten flog zu schnell, um anhalten zu können. Er zuckte zusammen und erwartete den Zusammenprall mit peitschenden Zungen und Zähnen. Aber eine Sekunde vor dem Zusammenstoß riss Zotz seine Köpfe ruckartig beiseite und Schatten schoss durch das Loch in den freien Himmel.
Sternenlicht regnete auf ihn herab. Er
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