Feuerflügel: Roman (German Edition)
und er würde seinen Sohn rechtzeitig erreichen.
–21–
Der BAUM
Sie konnten den BAUM hören, bevor sie ihn sahen: Ein hoher, klagender Gesang sandte eine merkwürdige Vibration durch jede Sehne von Greifs Körper. Es war das Geräusch von Wind, der durch Äste kreischt, von Regen, der auf Blätter prasselt, der Morgenchor von tausend Vögeln – etwas Urtümliches und Drängendes. Vielleicht hätte es Angst ausgelöst, wäre es nicht gleichzeitig auf eindringliche Weise schön gewesen – wie das Geräusch der ganzen Welt, zusammengefasst und verstärkt. Es war ein Willkommenssignal, unzweifelhaft anlockend.
„ Es ist das gleiche“, sagte Luna neben ihm.
Greif nickte, er verstand, was sie meinte. Es war eine intensivere Version des Geräusches, das sein eigenes Leuchten hervorrief, wenn es sich von seinem Körper trennte. Der Klang des Lebens.
Der BAUM selbst war ihren Blicken noch durch endlose Ketten hoher Hügel verborgen. Doch immer konnten sie sein Glühen am fernen Himmel sehen, und gelegentlich erhaschten sie einen Blick auf feurige Ranken, die auf die Sterne zuleckten.
Der Gesang zog sie an. Greifs Flug war jetzt langsam und mühselig. Im rechten Flügel ging ihm die Kraft aus und er musste das mit dem linken ausgleichen; so torkelte er durch den Himmel und verschwendete seine schwindenden Kräfte darauf, nur einen geraden Kurs zu fliegen. Luna ging es noch schlechter, sie zuckte bei jedem Flügelschlag zusammen, ihr Atem ging stoßweise. Die Wunden auf ihren Flügeln sahen wieder roher aus, als wären sie erneut versengt worden.
„Geht es?“, fragte er sie.
Sie nickte, zu erschöpft, um zu sprechen.
„Wir sind fast da“, krächzte er. Er hatte das während der vergangenen Stunden immer wieder gesagt, um ihre Stimmung zu heben; aber inzwischen fragte er sich, ob sie den BAUM je wirklich erreichen würden oder ob er nur eine Art quälenden Trugbildes war. Nicht, was man sich vorstellte, und niemals überhaupt vorhanden. Lag das nur an ihm oder wurde es tatsächlich wärmer und die Luft hier dichter, schwieriger zu durchfliegen?
Er mühte sich immer höher hinauf über den Abhang eines weiteren steilen Hügels, über die Kuppe hinweg, und dort zögerte er, kippte in eine enge Spirale und blinzelte angesichts der plötzlichen Blendung durch Klang und Hitze.
Der BAUM war noch riesiger, als er in Greifs Vorstellung gewesen war. Auf Friedas Klang-Karte hatte er gewaltig ausgesehen, und Greif hatte sich die größte Fichte im nördlichen Wald ausgemalt. Aber dieser BAUM hier türmte sich vom tiefen Talgrund auf, sein Stamm dick wie hundert Bäume, und streckte sich über dreihundert Meter in die Luft empor. Sein Geflecht wogender Äste ragte höher als die hageren Berge, die das Tal einschlossen, und bedeckte den Himmel. Jeder Zentimeter seiner Oberfläche war in Flammen gehüllt, die gierig nach Luft schnappten. Es gab jedoch keinen Rauch. Das Feuer verzehrte den BAUM nicht; das Feuer war der BAUM.
„Sieht nicht allzu einladend aus, oder?“, fragte Greif und versuchte zu lachen.
Luna sagte nichts. Sie flog neben ihm im Kreis. Bei jeder Drehung blitzte das Licht vom BAUM in ihren Augen auf.
Greif blickte an dem riesigen Stamm hoch.
„Da!“, sagte er. „Da geht es hinein!“
Auf halber Höhe befand sich ein Astloch. Es musste eine gewaltige Öffnung sein, aber im Verhältnis zur Größe des BAUMS wirkte sie nicht größer als der verborgene Eingang zu seiner Kinderstube, gerade groß genug für einen Silberflügel. Die Öffnung schimmerte dunkel, und er erhaschte dahinter einen Blick auf blitzende Sterne, bevor sie wieder in der flüssigen Schwärze verschwammen. Überall um das Astloch raste Feuer.
„Bereit?“, fragte er.
Luna konnte nur hinstarren.
Greif runzelte die Stirn. „Luna?“
„Es tut weh“, sagte sie. „Die Narben.“
Ihre Flügel zuckten so heftig, dass sie durch die Luft taumelte.
„Ich erinnere mich jetzt“, sagte sie. „Das Feuer. Wie es mich verbrannt hat. Es hat so wehgetan, Greif, so weh. Ich fliege da nicht hinein!“
Er betrachtete die Wand aus flüssigem Feuer und die kleine schwarze Öffnung in der Mitte und fühlte, wie ihn der Mut verließ. Was wäre, wenn Dante Recht hatte und es nur ein Ort des endgültigen Todes war? Aber Frieda hatte das Gegenteil behauptet. Der Klang des BAUMS war der Klang seines eigenen Lebens. Es musste der richtige Weg sein.
„Ich kann nicht“, sagte Luna mit erstickter Stimme. „Ist okay“, sagte er
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