Feuerflügel: Roman (German Edition)
über die Welt der Toten. Ich war mit meiner Rolle zufrieden, denn ich wusste, dass die Welt der Toten bald das größere und ausgedehntere Reich sein würde. Ich habe gut regiert und alle meine Untertanen geliebt. Ich habe ihnen eine endlose Nacht geschenkt, die sie bewohnen konnten. Ich habe ihnen ein Zuhause gegeben wie das, an das sie gewohnt waren. Ich habe ihnen Orte gegeben, an denen sie sich auf ewig an ihr vorheriges Leben erinnern konnten. Ich habe ihre Schmerzen gelindert – habe sie ihnen ganz genommen, sodass sie vergessen und Seligkeit empfinden konnten!“
Schatten dachte an die riesige Höhle, wo die Fledermäuse versteinerten und in diesen schrecklichen Fluss des Vergessens stürzten. Lag darin ihre Seligkeit?
„Aber nach einiger Zeit wurden manche Tote trotz meiner Bemühungen unruhig. Sie vermissten die Oberwelt. Ich habe Nocturna gefragt, ob die Toten zurückkehren könnten und ob ich aufsteigen und meine Untertanen in beiden Welten regieren könnte. Wir haben eine Beratung abgehalten hier in meinem Reich. Herzlos hat Nocturna sich geweigert, die Toten oder mich in die Oberwelt zurückkehren zu lassen. Sie hat gesagt, das wäre nicht die Ordnung der Dinge.“
Schatten empfand einen unangenehmen Anflug von Sympathie. War das nicht auch sein eigener einziger Wunsch an diesem Ort: zu entkommen? Jeder, der hier unten jahrhundertelang eingeschlossen war, würde praktisch zum Wahnsinn getrieben durch das Verlangen, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.
„Daher“, fuhr Zotz fort, „habe ich Nocturna getötet.“
Schatten atmete keuchend aus. Er wusste nicht, ob er das glauben sollte. Im Herzen hatte er immer einen finsteren und schuldbeladenen Verdacht gehegt, dass Nocturna nie existiert hätte. Sie war ein Irrtum, nur eine Legende, die die Ältesten durcheinander gebracht hatten.
Aber nun hatte er plötzlich ein Gefühl des Triumphes, dass er widerlegt worden war, wenn auch Zotz behauptete, er habe sie ermordet. Vielleicht erklärte das ihre geheimnisvolle Abwesenheit in Schattens Welt, die Tatsache, dass man sie nie sah, nie hörte, während Zotz in der Lage war, über die Erde zu fegen und seine Anhänger zu führen und zu stärken.
„Wann?“, fragte Schatten. „Wann ist das passiert?“
„Vor tausenden von Jahren. Nur aus Boshaftigkeit hat sie sich geweigert, mich oder die Toten zu befreien. Daher habe ich sie umschlungen und das Leben aus ihr herausgewürgt und sie ist gestorben. Ihr Körper ist wie ein Blatt auf den Boden geflattert. Aber in ihrem Tod hat sie den größten Verrat begangen. An der Stelle, an der sie lag, ist ein Baum gewachsen.“
Schattens Herz schlug schneller.
„Der BAUM ist groß und stark geworden“, zischte Zotz, „bis er mit seinen Ästen den steinernen Himmel berührt hat. Sie hat dieses lebendige Wesen in meinem Reich zurückgelassen. Ohne meine Erlaubnis. Der BAUM ist nicht gestorben oder verwelkt. Ich konnte ihn nicht anrühren. Ich konnte mich ihm nicht einmal nähern. Aber die Toten, die in den BAUM eingingen, wurden aus der Unterwelt befreit. Pilger haben angefangen, in meinem Reich herumzuziehen und zu predigen, der BAUM sei ein Portal zu einer neuen Welt, zu einer Welt, die Nocturna für sie nach ihrem Tod geschaffen hätte.“
„Also lebt sie noch?“, fragte Schatten.
„Irgendwie ist es ihr gelungen, sich wieder in die Oberwelt zu befreien. Aber du wirst sie niemals sehen“, sagte Zotz, wobei ein Ton der Verachtung in seine Stimme drang. „Sie existiert nur in kleinen Dingen. In Blättern und Staub, Tautropfen und Kieselsteinen. Sie hat keinen größeren Körper, den sie bewohnen könnte. Sie ist fein über die ganze Welt verteilt. Sie handelt nicht. Sie beobachtet nur. Und sie wird zufrieden zuschauen, wie ihr sterbt, du und dein Sohn. Sie wird es nicht verhindern. Dein Schicksal ist von Nocturna entschieden worden, nicht von mir. Sie hat es nötig gemacht, dass ihr sterbt, damit Goth und Phönix euer Leben haben können. Genauso wie sie den Schacht nötig gemacht hat, indem sie mir jede andere Möglichkeit der Rückkehr in die Oberwelt verweigert hat. Einstmals waren wir gleichrangig. Jetzt muss ich das Gleichgewicht wiederherstellen.“ „Wie?“, fragte Schatten. Wie kam es nur, dass er noch Dinge wissen wollte? Er und sein Sohn waren vom Tode bedroht, und doch konnte er seine Gedanken nicht zum Schweigen bringen oder die Hoffnung unterdrücken, dass, wenn er mehr erfuhr, mehr verstand, er in der Lage sein könnte zu
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