Feuerflügel: Roman (German Edition)
von Flügeln und Stimmen; Jungtiere und Mütter riefen einander. Schatten wartete nicht und fügte seine eigene Stimme dem allgemeinen Geschrei hinzu.
„Marina!“
Mühsam flatterte er durch das luftige Durcheinander und rief Marinas Namen. Um sich herum konnte er seine Silberflügel-Gefährten nach ihren eigenen Partnerinnen rufen hören. Schatten hatte dabei geholfen, diesen Baum auszuhöhlen, aber seine Gänge und Ruheplätze waren von den Weibchen noch stark erweitert worden, und er war mit dem Plan der verwinkelten Anlage nicht mehr vertraut.
„Schatten?“
Sofort richtete er sich auf ihre Stimme aus und wirbelte herum. Als er sie sah, verkrampfte sich ihm die Kehle. Sie hing nicht an einem Ruheplatz, sondern lag flach auf dem Bauch auf einem Vorsprung; ihr rechter Flügel war unbeholfen ausgebreitet.
„Marina“, sagte er und landete neben ihr; für einige Augenblicke sprach keiner von ihnen ein Wort, ihre Gesichter und Körper hatten sie aneinander gepresst, genossen den Geruch und die Berührung des anderen.
„Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, flüsterte sie an seinem Hals.
Schließlich löste er sich von ihr. „Dein Flügel.“
„Ich weiß nicht. Er fühlt sich nicht so gut an. Das Erdbeben hat den Ast abgebrochen und ich war darin. Ich wurde ein wenig hin- und hergeworfen, bevor ich mich frei machen konnte.“
Er warf einen zarten Klanghauch über ihren Flügel und konnte die Schwellung in ihrem Unterarm sehen, obwohl er keine offensichtlichen Knochenbrüche erkennen konnte. Er hoffte, dass es sich nur um eine Verstauchung handelte, aber er wusste, dass sie eine Weile nicht würde fliegen können.
„Tut es sehr weh?“, fragte er.
Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, wo Greif ist. Ich habe Penumbra gebeten, ihn zu suchen, aber sie ist noch nicht zurückgekommen.“
„Er ist wahrscheinlich noch draußen auf der Jagd“, sagte Schatten. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, aber er selbst wurde von Sorgen überschwemmt. Sie hatte nicht gesehen, wie es draußen aussah, die zermalmten Bäume, die aufgeworfene Erde. Wenn Greif da draußen gewesen war, konnte Schatten nur hoffen, dass er sich in der Luft befand, als das Erdbeben zuschlug.
„Er hatte Kummer, Schatten. Er ist irgendwo hingeflogen, um allein zu sein, glaube ich.“
„Warum?“
Ihr Gesicht wirkte verhärmt. „Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.“
„Nicht mit Greif“, platzte er instinktiv heraus.
„Greif ist unverletzt. Es war seine Freundin Luna, eins von den anderen Jungtieren. Sie haben von den Menschen Feuer gestohlen.“
Er hörte mit wachsendem Entsetzen zu, als sie ihm die ganze Geschichte erzählte.
„Wie geht es Luna jetzt?“
„Nicht gut. Wir haben uns um ihre Verbrennungen gekümmert, aber ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Und die ganze Zeit ...“ Sie senkte die Stimme, als schämte sie sich. „Immer wieder muss ich denken, ich bin so froh, dass es nicht Greif passiert ist. So froh.“
Sie fing an zu weinen und Schatten drückte sie zärtlich an sich und versuchte, die eigenen Tränen zurückzuhalten.
„Ich glaube, er hat es getan, um dir Eindruck zu machen“, sagte Marina.
„Um mir Eindruck zu machen?“, fragte er erstaunt. „Ich hätte es wissen müssen, dass es so kommen würde. Alle erzählen Geschichten von dir, die Sachen, die du getan hast, und ... er ist nicht wie du, Schatten. Er hält sich zurück, er macht sich Gedanken über alles. Er hatte wahrscheinlich Angst, du würdest ihn nicht mögen, wenn er nicht etwas Schlaues und Heldenhaftes tut.“
Schatten wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte seinen Sohn noch nicht einmal getroffen und es schien schon, als ob er ihn unglücklich gemacht hatte, ihn dazu gebracht hatte, etwas Törichtes und Gefährliches zu tun, das vielleicht ein Junges das Leben kosten würde.
Penumbra kam auf sie zugeflattert. „Es tut mir Leid, Marina, wir haben ihn noch nicht gefunden. Aber es sind noch viele Jungen draußen. Wir halten noch Ausschau nach ihm.“
„Ich werde auch suchen“, beruhigte Schatten Marina. Er neigte den Kopf nahe zu ihr. „Sag mir, wie er aussieht.“
Er horchte aufmerksam, als sie ihm ein Echobild in die Ohren sang, und beobachtete, wie ein Bild seines Sohnes vor seinem inneren Auge erstand wie in Silber eingegraben. Es war das erste Mal, dass er seinen Sohn sah, und das Herz ging ihm auf. Er wusste nicht, ob Greif eine starke Ähnlichkeit mit ihm oder Marina hatte, aber
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