Feuerflügel: Roman (German Edition)
Erdbeben.
Schatten warf sich in den Tunnel, kroch so schnell er konnte auf Greifs Spur hinter ihm her. Vorbei an der Abbiegung zur Echokammer und noch weiter hinab. Greif, warum bist so tief nach unten gegangen? Warum musstest du dich hier unten verstecken?
So versessen war er darauf, der Spur zu folgen, dass er beinahe mit dem Kopf voran in die Mauer aus Geröll und Fels gekracht wäre, die das Erdbeben geschaffen hatte. Keuchend horchte er in die Vergangenheit vor dem Erdstoß zurück, bis er das verwischte silberne Bild seines Sohnes im Tunnel erblickte. Entsetzt beobachtete er, wie Greif sich in der Geröllwand auflöste und darin verschwand.
Das bedeutete, er war über diesen Punkt hinausgelangt.
Oder dass er irgendwo im Geröll eingeschlossen war. „Greif!“, rief er, sodass seine Stimme in dem beengten Tunnel hin und her hallte. Sofort begann er, an dem Geröll zu kratzen, hustete und nieste, als der Staub um ihn herum wirbelte. Der Einbruch konnte nur ein paar Flügelschläge tief sein oder auch ein paar hundert. Es kam nicht darauf an. Aber nach wenigen Minuten sah er ein, dass er so nichts erreichen würde. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er wusste, dass es gefährlich war, dass es einen noch verhängnisvolleren Einbruch auslösen konnte, aber Greif konnte da drinnen eingeschlossen sein, und es war die einzige Möglichkeit, das Geröll zu bewegen. Schatten holte tief Luft und mit aller Kraft bellte er einen Klangstrahl hinaus.
Der Klang schlug gegen die Geröllmauer und das zurückkehrende Echo blendete ihn auf beiden Ohren. Der Boden erbebte und Steine und Erde prasselten ihm aufs Fell, aber als er die Augen öffnete, sah er, dass seine Druckwelle eine kleine Lawine ausgelöst und in der Schuttwand ein Loch geöffnet hatte. Noch einmal tönte er vorsichtig, um die Öffnung zu erweitern, dann eilte er auf sie zu.
„Greif!“
Nichts.
Er kletterte durch das Loch und benutzte vorsichtig Klangfächer, um das Geröll abzusuchen. Sein Herz flatterte, ihm war übel vor Angst, er könne die Spitze eines zerschmetterten Flügels sehen, ein Stück lebloses Fell. Voller Sand zog er sich auf der anderen Seite heraus, zitternd vor Erschöpfung und Erleichterung. Er hatte nichts gesehen. Gewiss war Greif auf dieser Seite und in Sicherheit.
„Greif?“
Aber der Tunnel war leer. Dann sah er es. Am entfernten Ende war der Fels in einen schmalen Spalt gerissen, breit genug, dass eine Fledermaus sich hindurchzwängen konnte. Ein schwaches Zischen war zu hören. Sofort dachte Schatten an den Bärenspanner, der in die Erde hinabgesaugt worden war.
Nein!
Es war immer noch möglich, dass sein Sohn irgendwo in dem Stolleneinbruch eingeschlossen war ... es gab nur einen Weg, sich Sicherheit zu verschaffen. Erneut stellte Schatten die Ohren weit auf und horchte. Diesmal war es einfacher, es gab weniger Echos, die ihn ablenken konnten, während er die Geräusche der Vergangenheit durchsiebte, und plötzlich war da Greif, zusammengekrümmt im Tunnel, eingeschlossen.
Schatten hatte einen Kloß im Hals, als er die besorgten Bewegungen seines Sohnes beobachtete, der erfolglos an dem Geröll kratzte, das ihn abgeschnitten hatte, sich dann umdrehte, um sich der zischenden Öffnung zu nähern, die ihm den einzigen Ausgang verhieß. Schatten starrte hin, sein Atem stockte, als Greif sich in den Spalt duckte und verschwand.
„Ich fürchte, dein Sohn könnte für dich bereits verloren sein“, sagte Lukretia, die oberste Älteste der Silberflügel.
Schatten schüttelte den Kopf, versuchte damit auch ihre schrecklichen Worte abzuschütteln. „Es gibt bislang keine Möglichkeit für uns, das in Erfahrung zu bringen.“
Seine ganze Entschlossenheit war nötig gewesen, damit er in den Baumhort zurückkehrte. Unter der Erde war er in den zischenden Spalt gekrochen und Greifs Echobild immer weiter hinab gefolgt, bis es sich schließlich in dem mächtigen Luftstrom auflöste. Da wusste Schatten, wenn er nicht sofort umkehrte, würde auch er kopfüber hinabgerissen werden zu dem, was da unten wartete. Er hatte den Wunsch gehabt, trotzdem weiterzugehen, sich hinter seinem Sohn hinabzustürzen.
Aber er konnte nicht. Noch nicht. Zum Allermindesten musste er Marina Bescheid sagen. Mühsam hatte er sich den Tunnel wieder hoch und in den Baumhort geschleppt. Und nun rutschte er in seiner Spitze ungeduldig hin und her, als er den vier Ältesten zuhörte, die über ihm hingen.
„Im Laufe der Jahrhunderte“, sagte
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