Feuerflügel: Roman (German Edition)
während er sein Bild betrachtete, hatte er ein starkes Gefühl der Vertrautheit. Dieses kleine Geschöpf gehörte zu ihm.
„Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“, fragte er.
„Beim Rastplatz der Heilerin. Er ist losgeflogen, bevor ich ihn zurückhalten konnte, und als ich hinter ihm hergeflogen bin, war er bereits verschwunden. Ich habe mir gedacht, vielleicht musste er allein sein.“ Voller Sorge verlagerte sie das Gewicht und zuckte wegen dem Schmerz in ihrem Flügel zusammen. „Ich hätte ihm folgen sollen.“
„Das ist schon in Ordnung. Ich werde ihn finden.“ Als er ihren Zweifel bemerkte, fügte er hinzu: „Ich werde nach ihm horchen.“
Schatten wusste, er konnte Stunden damit verbringen, herumzufliegen und zu suchen. Der beste Weg war, ihn mit Klang aufzuspüren. Vor langer Zeit hatte ihm Zephir, der Hüter des Turms, erklärt, dass man Geräusche aus der Vergangenheit und sogar aus der Zukunft hören konnte, wenn man ein ausreichend scharfes Gehör hatte. Schatten hatte noch nie damit Erfolg gehabt, die Zukunft zu hören, aber er hatte herausgefunden, dass er, wenn er sich nur genügend konzentrierte, die Echos von Ereignissen hören konnte, die schon stattgefunden hatten ... allerdings, wie lange zurückliegende Ereignisse, das wusste er genau genommen nicht.
Er streichelte Marina ein letztes Mal, dann flog er zum Ruheplatz der Heilerin nahe der Spitze des Baumhorts. An seinem Eingang zögerte er, als er das verletzte Junge sah, so still, von seiner Mutter umsorgt.
„Wie geht es ihr?“, fragte Schatten.
„Ich weiß es nicht.“ Ihre Mutter hob kaum den Kopf. „Gibt es noch irgendetwas, was du brauchst?“
„Alles ist getan worden“, sagte die Mutter. „Danke.“ Schatten flatterte in die hintere Ecke des Rastplatzes der Heilerin und versuchte, den Kopf frei zu bekommen. Er horchte. Er begann damit, die lautesten Geräusche auszublenden, die, die jetzt gerade im Baumhort erzeugt wurden, dann versuchte er die leiseren zu hören, die Echos von Geräuschen, die nur vor ein paar Sekunden gemacht worden waren, dann noch ein paar Sekunden früher ...
Während er tiefer und tiefer in die Vergangenheit horchte, hatte er ein merkwürdiges Gefühl der Schwerelosigkeit, irgendwo zwischen Fliegen und im Wasser Treiben. Er wusste nicht, wie weit er in die Vergangenheit zurückging, und musste raten. Ab und zu hielt er an und ließ die Echos Bilder vor seinem inneren Auge zeichnen:
Luna und ihre Mutter, die sich über sie beugte und ihre Wange tätschelte.
Weiter zurück: Ariel und viele andere Weibchen um das Junge versammelt, wie sie offenbar seine Verletzungen besprachen; Schatten wollte allerdings keine Zeit damit verschwenden, ihre Worte zu entziffern ...
Abseits auf einer Seite sah er Marina, die allein da hing und zuschaute ...
Ein bisschen weiter zurück in der Zeit und ...
Ein Junges war plötzlich neben ihr und sprach. Sofort erkannte Schatten seinen Sohn Greif.
Ich habe ihn gefunden, dachte Schatten. Nun musste er ihm folgen und vorwärts horchen durch den Lauf der Zeit.
Schatten hatte das Gefühl, in einer riesigen schwarzen Leere zu schweben, als er sich bemühte, die Echos aufzufangen, die das Bild seines Sohnes malten. Dieses war silbrig, verschwommen, und drohte sich bisweilen ganz aufzulösen. Als er angestrengt hinhörte, sah er Greif losfliegen und vom Ruheplatz der Heilerin wegstürzen.
Auch Schatten musste abheben und der Flugbahn seines Sohnes folgen. Er hielt sich eng an die Echos, die dessen Flügel hinterlassen hatten. Es war, als ob er einem Hauch flüssigen Lichts folgte, als er sich durch den gewaltigen Stamm des Baumhorts bewegte. Dabei hielt Schatten ein Auge offen, damit er seinen eigenen Kurs mit dem seines Sohnes abgleichen und einen Zusammenstoß mit anderen Fledermäusen vermeiden konnte.
Er folgte Greifs Klangspur tiefer, bis sie auf dem Grund des Baumhorts kurz zögerte. Schatten brauchte all seine Konzentration, um sich auf die Echos seines Sohnes auszurichten, um seine Ohren gegen alle Geräusche im Baum zu verschließen und gegen die anderen Echos aus der Vergangenheit.
Als er das Echobild seines Sohnes in die Tunnel verschwinden sah, wurde ihm übel. Er konnte nur hoffen, dass Greif nicht unter der Erde gewesen war. Schatten hielt an und horchte voraus in der Zeit, hoffte, eine andere Klangerscheinung käme aus dem Gang zurück. Aber da war nichts außer einer langen Stauchung von Licht, die von etwas sehr, sehr Lautem verursacht worden war. Dem
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