Feuerflügel: Roman (German Edition)
unwahrscheinlich, dass es da unten irgendwelche Nahrung gibt oder Wasser. Vielleicht gibt es nicht einmal Luft zum Atmen. Es ist nicht vorgesehen, dass ein Silberflügel in die Unterwelt des Cama Zotz geht.“
„Aber Greif ist gegangen! Ich brauche nur zwei Nächte“, beharrte Schatten. „Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, verschließt die Öffnung.“
Die Ältesten schwiegen für einen Augenblick. Dann seufzte Lukretia und blickte auf Ariel hinab. Die nickte traurig hoch zu der obersten Ältesten.
„Gut“, sagte Lukretia, „zwei Nächte. Nicht mehr.“
„Ich komme mit!“, sagte Marina zornig.
„Du kannst nicht“, sagte Schatten. „Du musst deinen Flügel heilen lassen. Wenn du das nicht tust, kannst du vielleicht nie wieder fliegen.“
„Es ist nicht fair!“, sagte sie unter Tränen. „Es ist nicht fair, dass du gehst und mich zurücklässt, wo ich nichts anderes tun kann, als mir Sorgen zu machen!“ Sie sah so wütend aus, dass er lächeln musste, nur ein bisschen.
„Und du?“, sagte sie. „Was ist, wenn ich auch dich verliere?“
Er seufzte und umarmte sie mit den Flügeln. „Sag mir, was ich tun soll.“
„Geh ihn holen“, sagte sie. „Geh ihn holen und bring ihn nach Hause.“
„Ja“, sagte er. „Ja.“
–6–
Die Oase
Lange Zeit starrte Greif mit trüben Augen nach oben und versuchte zu verstehen, was er da sah. Allmählich wurden die Dinge klarer. Er schaute auf ein kompliziertes Gewebe von Zweigen und Blättern, und dahinter strahlten Sterne am nächtlichen Himmel.
Während er mit ausgebreiteten Flügeln flach auf dem Rücken lag, flackerten Bilder seines Absturzes durch sein Gedächtnis. Was wäre, wenn er etwas gebrochen hatte ...? Einen Flügel? Er schluckte, hatte Angst sich zu bewegen; jedenfalls spürte er keinen Schmerz. Aber vielleicht war er ja noch in einem Schockzustand. Vielleicht hatte er das Rückgrat gebrochen und würde niemals wieder etwas fühlen. Vorsichtig drehte Greif den Kopf. Gut, das funktionierte. Er untersuchte erst den linken Flügel, dann den rechten. Sie schienen nicht beschädigt zu sein. Er krümmte die Finger, einen nach dem anderen, dann legte er langsam beide Flügel eng an den Körper. Sachte schaukelte er seitwärts hin und her, bis er genügend Schwung hatte, um sich auf den Bauch zu rollen.
Er knurrte, als sich die gezerrten Muskeln überall auf dem Rücken und der Brust zusammenkrampften. Aber wenigstens schien nichts gebrochen. Das dicke Bett aus Blättern und Moos auf dem Boden des Waldes musste seinen Sturz gedämpft und ihm das Leben gerettet haben.
Es war töricht von ihm, so lange auf dem Boden zu bleiben. Eine richtige Einladung, gefressen zu werden. Er verschwendete keine Zeit mehr. Stöhnend schlug er kräftig mit den Flügeln, um etwas Auftrieb zu erzeugen, bevor er sich mit den Beinen abstieß. Langsam stieg er in einer Reihe ruckartiger Spiralen nach oben. Wie lange mochte er wohl benommen da unten gelegen haben? Ein Glück, dass kein Vierfüßler vorbeigekommen war und ihn verschlungen hatte. Er erreichte die Spitze eines hohen Baums und dort ließ er sich nieder.
Greif warf einen gründlichen, ausgiebigen Blick auf seine Umgebung. Überall Wald, der genügend Ähnlichkeit mit seinem Zuhause hatte, dass er Hoffnung aufkommen spürte. Aber als er seinen Blick auf den Himmel richtete, verflog diese Hoffnung wieder. Er konnte den Polarstern nicht finden. Orion? Nein. Der Große Bär?
Alle Sterne fügten sich zu Sternbildern, die er noch nie gesehen hatte. Er begann zu zittern, ein tiefes, inneres Beben, das nichts mit Kälte zu tun hatte.
Wo bin ich?
Er konnte die Augen nicht vom Firmament reißen.
Die Sterne waren größer, als er sie in Erinnerung hatte, und außergewöhnlich hell. Sogar ohne Mond am Himmel reichte das Licht der Sterne aus, den Wald in ein Silberlicht zu tauchen, das eher der nahenden Morgendämmerung ähnelte. Die Gestirne hatten auch noch etwas anderes an sich ... was war das nur? Dann dämmerte es ihm: Sie blinkten überhaupt nicht. Ihr Licht war rein und ohne Flackern.
Er presste die Kiefer aufeinander, um zu verhindern, dass er mit den Zähnen klapperte.
Wie bin ich hierher gekommen?
Er war in ein Loch gefallen.
Dann war er aus dem Himmel gefallen.
Es klang wie irgendetwas aus einem schrecklichen Traum, aber er wusste, das war kein Traum. Er hatte jede Menge schlimme Träume gehabt – darin war er ein Experte – und dies jetzt fühlte sich nicht wie ein Traum an. Aber wie war er
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