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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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leid, daß ich deine Eltern fortschicken mußte“, sagte sie. „Sie können bald zurückkommen.“
    Seine Augen glitzerten, aber er hielt die Tränen zurück. „Sie haben gesagt, daß ich tun soll, was du von mir willst.“
    „Es wäre mir lieber, wenn du weinst, falls du das kannst“, sagte Schlange. „Weinen ist wirklich nicht so schlimm.“ Doch anscheinend begriff Stavin sie nicht, und Schlange verzichtete darauf, ihn zu drängen; sie wußte, daß sein Volk die Menschen lehrte, sich einem harten Land zu widersetzen, indem sie dem Weinen entsagten, sich weigerten, zu klagen, sich weigerten, zu lachen. Sie verboten sich Kummer und erlaubten sich wenig Freude, aber sie überlebten.
    Dunst hatte sich beruhigt und trotzte nun. Schlange löste sie von ihren Hüften und legte sie auf den Strohsack neben Stavin. Als die Kobra sich wieder regte, lenkte Schlange ihren Kopf; sie spürte die Anspannung der Kiefermuskeln. „Sie wird dich mit ihrer Zunge berühren“, sagte sie zu Stavin. „Vielleicht kitzelt es, aber es schmerzt nicht. Sie riecht damit, so wie du mit deiner Nase.“
    „Mit ihrer Zunge?“
    Schlange nickte, und Dunst ließ ihre Zunge hervorzucken, um mit ihr Stavins Wange zu erkunden. Stavin fuhr nicht auf, er sah ihr zu; für einen Moment überwand seine kindliche Freude am Entdecken seine Pein. Er lag völlig reglos, während die lange Zunge über seine Wangen glitt, seine Augen, seinen Mund. „Sie riecht die Krankheit“, sagte Schlange. Dunst hörte auf, sich gegen den Zwang ihres Griffs zu sträuben, und zog ihren Kopf zurück. Schlange hockte sich auf die Fersen und ließ die Kobra los, die sich daraufhin an ihrem Arm emporwand und sich um ihre Schultern legte. „Schlafe, Stavin“, sagte Schlange. „Versuche mir zu vertrauen. Und versuche, dich nicht vor dem Morgen zu fürchten.“
    Stavin musterte sie einige Sekunden lang und forschte in Schlanges hellen Augen nach Wahrhaftigkeit. „Wird Gras aufpassen?“
    Die Frage verblüffte sie; oder vielmehr war es die Bereitwilligkeit, die hinter der Frage stand. Sie streifte ihm das Haar aus der Stirn und lächelte ein Lächeln, das dicht unter der Oberfläche von Tränen schwamm. „Natürlich.“ Sie hob Gras auf. „Er wird über dies Kind wachen und es beschützen.“ Gras lag bewegungslos in ihrer Hand; seine Augen glitzerten schwarz. Behutsam bettete sie ihn auf Stavins Kissen. „Schlaf nun.“
     
    Stavin schloß die Augen, und das Leben schien ihn zu fliehen. Der Unterschied war so bemerkenswert, daß Schlange bereits den Arm hob, um ihn abzutasten, doch dann sah sie, daß er atmete, langsam und flach atmete. Sie deckte ihn zu und stand auf. Die plötzliche Haltungsänderung verursachte ihr ein Schwindelgefühl; sie wankte und fing sich. Auf ihren Schultern spannten sich die Muskeln von Dunst.
    Schlanges Augen brannten, ihr Blick war überscharf, von fiebriger Klarheit. Das Geräusch, das sie zu hören vermeinte, rückte stürmisch näher. Sie sammelte Widerstandskraft gegen Hunger und Erschöpfung, bückte sich langsam und nahm die Lederschachtel. Dunst berührte ihre Wange mit ihrer Zungenspitze.
    Sie schob die Zeltklappe beiseite und empfand Erleichterung darüber, daß noch Nacht herrschte. Die Hitze vermochte sie auszuhalten, aber der grelle Sonnenschein durchdrang sie, versengte sie. Es mußte Vollmond sein; obwohl die Wolken alles verhingen, zerstreuten sie das Licht doch so, daß der Himmel von Horizont zu Horizont grau aussah. Jenseits der Zelte erhoben sich formlose Schatten vom Untergrund. Hier, nahe vom Rand der Wüste, gab es genug Wasser, so daß Gruppen und Streifen von Sträuchern gediehen und allen Arten von Geschöpfen Schutz und Unterhalt boten. Der schwarze Sand, der im Sonnenlicht funkelte und blendete, glich bei Nacht einer Schicht aus weichem Ruß. Schlange trat aus dem Zelt, und die Illusion von Weichheit zerflog; ihre Stiefel sanken mit Knirschen in die spitzen scharfen Sandkörner ein.
    Stavins Familie wartete; sie saß zusammengedrängt zwischen den dunklen Zelten, die dicht an dicht auf einem Flecken von Sandboden aufragten, aus dem man die Sträucher gerissen und verbrannt hatte. Sie schaute ihr wortlos entgegen, hoffte nur mit den Augen; die Gesichter zeigten keinerlei Ausdruck. Dabei saß eine Frau, die etwas jünger war als Stavins Mutter. Wie sie war sie in ein langes, weites Gewand gekleidet, doch außerdem trug sie das einzige Schmuckstück, das Schlange bei diesem Volk sah – den Ring eines Oberhaupts,

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