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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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das erste Mal, daß Schlange in ihrer Gegenwart sprach. Sie hatte nur zugeschaut, als diese drei erschienen waren, um sie aus einiger Entfernung zu beobachten, als sie über ihre Zunft und ihre Jugend flüsterten; sie hatte nur gelauscht und genickt, als sie schließlich zu ihr kamen, um sie um Hilfe zu bitten. Vielleicht hatten sie geglaubt, sie sei stumm.
    Der hellhaarige, jüngere Mann hob ihre lederne Schachtel vom Filzboden. Er hielt das ranzengleiche Behältnis weit von seinem Körper weg und beugte sich vor, um es ihr zu reichen; er atmetet flach, die Nasenflügel bebten aufgrund des leichten Moschusgeruchs, der in der trockenen Wüstenluft hing. Schlange hatte sich schon fast an die Art von Unbehagen gewöhnt, die er zeigte; dergleichen hatte sie schon oft genug gesehen.
    Als Schlange zugreifen wollte, fuhr der junge Mann zurück und ließ das Behältnis fallen. Schlange sprang auf und konnte es gerade noch fangen; behutsam stellte sie es ab und sah ihn vorwurfsvoll an. Sein Ehegefährte und seine Ehefrau traten vor und berührten ihn, um seine Furcht zu besänftigen. „Er ist einmal gebissen worden“, sagte die dunkle, hübsche Frau. „Beinahe wäre er daran gestorben.“ Sie sprach nicht im Tonfall der Entschuldigung, sondern der Begründung.
    „Verzeih mir“, sagte der jüngere Mann. „Es ist …“ Er deutete herüber; er zitterte, und es kostete ihn sichtlich Mühe, die Äußerungen seiner Furcht zu beherrschen. Schlange blickte flüchtig auf ihre Schulter, wo sie das leichte Gewicht und die leisen Bewegungen unbewußt gespürt hatte. Eine winzige Schlange, dünn wie der Finger eines Säuglings, glitt an ihrem Nacken und zeigte unter ihren kurzen schwarzen Locken einen schmalen Kopf. Auf gemächliche Weise tastete sie mit ihrer dreigespaltenen Zunge durch die Luft – hinaus, hinauf und hinab, hinein –, um die vorhandenen Gerüche zu schmecken.
    „Das ist nur Gras“, sagte Schlange. „Er kann dir nichts tun.“ Er hätte Furcht erregen können, wäre er größer gewesen; er war von hellgrüner Farbe, aber um sein Maul waren die Schuppen rot, als habe er soeben nach Art eines Säugetieres gefressen, durch Reißen. Aber er war erheblich säuberlicher.
    Das Kind wimmerte. Es verstummte inmitten des Schmerzlauts; vielleicht hatte man ihm eingeredet, auch Schlange nähme Klagen übel. Sie empfand nur Bedauern darüber, daß diese Menschen sich eine so einfache Möglichkeit, um Furcht zu lindern, freiwillig versagten. Sie wandte sich von den Erwachsenen ab, deren Entsetzen vor ihr sie bekümmerte, doch sie wollte nicht die Zeit opfern, die es erfordert hätte, um sie davon zu überzeugen, daß ihre Haltung keine Berechtigung besaß. „Es ist alles gut“, sagte sie zu dem kleinen Jungen. „Gras ist glatt, trocken und weich, und wenn ich ihn zurücklasse, damit er dich beschützt, kann nicht einmal der Tod dein Bett erreichen.“ Gras ließ sich in ihre schmale, schmutzige Hand rutschen, und sie streckte ihn dem Kind hin. „Vorsichtig.“ Der Junge hob eine Hand und berührte die geschmeidigen Schuppen mit einer Fingerspitze. Schlange spürte die Anstrengung, die er für eine so gewöhnliche Bewegung aufbieten mußte, doch der Junge lächelte beinahe. „Wie nennt man dich?“
    Rasch blickte er hinüber zu seinen Eltern, die schließlich nickten. „Stavin“, flüsterte er. Er hatte weder die Kraft noch den Atem zum Sprechen.
    „Ich bin Schlange, Stavin, und in kurzer Frist, am Morgen, muß ich dir weh tun. Du wirst einen kurzen Schmerz verspüren, und dein Körper wird noch einige Tage lang schmerzen, aber danach wird es dir bessergehen.“ Er starrte sie mit ernstem Blick an. Schlange sah, daß er verstand, und fürchtete, was sie tun wollte, jedoch war seine Furcht geringer, als wenn sie ihn belogen hätte. Der Schmerz mußte sich sehr verstärkt haben, während seine Krankheit offenkundiger wurde, aber anscheinend hatten andere ihn bloß zu ermutigen versucht und gehofft, das Leiden werde weichen oder ihn schnell töten.
    Schlange setzte Gras auf das Kissen des Knaben und zog ihre Lederschachtel näher heran. Bei ihrer Berührung öffnete sich das Schloß. Die Erwachsenen konnten noch immer nicht anders, als sie fürchten; sie hatten bisher weder die Zeit dazu gehabt noch genug Vernunft aufgebracht, um zu ihr Vertrauen zu entwickeln. Die Frau war alt genug, um womöglich nie wieder ein Kind zu bekommen, und Schlange bemerkte an den Augen der Eltern, ihrem verhohlenen Kummer und Besorgnis,

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