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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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vermeiden, das Jungwesen zu berühren; es mußte gefüttert und warm und saubergehalten werden, und die Sehnen und Muskeln in seinen Flügeln würden Kontrakturen entwickeln, wenn man sie nicht massierte. Er arbeitete schwer an dem Jungwesen und versuchte, seine Gefühle zu ignorieren, sie zu beherrschen.
    Und doch – wer würde es erfahren, wenn er seine Hände über den schlanken Körper gleiten ließe und mit halb ausgestreckten Silberkrallen dünne Liebeslinien über die Haut zöge? Er konnte den Schlafenden umarmen und dabei beide Flügel ausstrecken, und niemand würde vor der rauhen Berührung des zerfetzten Gewebes zurückweichen. Kinder streichelten und erforschten gegenseitig ihre androgynen Genitalien – weshalb sollte er sich zurückhalten? Geflüsterte Worte konnten eine Entscheidung beeinflussen, die noch getroffen werden mußte, Worte und die Überredungskunst erfahrener Hände, selbst im Schlaf. Und sollte das Jungwesen erwachen – mit welchem Recht konnte jemand, der so häßlich war, sich widersetzen? Wer anders als ein Krüppel würde einen solchen Gefährten denn nehmen? Wer würde sich noch um ihn kümmern?
    Er riß die Augen auf, um seine Phantasien auszulöschen, und empfand Scham. Die Auroras – sein Stolz, sein Gefängnis – bebten gleich hinter der niedrigen Steinmauer.
    Wenn ihm ganz zynisch und ganz einsam zumute war, beschwichtigte er sich manchmal mit der Versicherung, daß er der Würdigste seines Volkes war und stark genug (denn war er nicht am Leben?), um Freundlichkeit und sogar Gnade zeigen zu können. Aber unter den wenigen Verbrechen, die sein Volk kannte, war die Tat, die er jetzt erwog, das schlimmste.
    Er war lange Zeit einsam gewesen. Er hatte seine Einsamkeit verstanden, aber niemals akzeptiert. Er war stolz, trotz seiner Wunden. Er hätte sogar verbittert und grausam sein können oder eitel und oberflächlich, aber selbst dazu war er zu stolz gewesen, zu stolz, um zuzulassen, daß die Verzweiflung ihn veränderte, obgleich niemand mehr da war, um es zu sehen. Jetzt aber fürchtete er langsam, daß seine Kraft und sein Stolz bald erschöpft sein könnten. Trotz der Häßlichkeit der pastellfarbenen Augen fühlte der Wächter sich angezogen, er spürte, daß er sich verliebte. Er zwang sich, an das Jungwesen im Maskulinum zu denken. Wenn das Jungwesen – wenn er erwachte, konnte das noch mehr Einfluß auf ihn ausüben, als wenn er ihn im Schlaf wie eine geschlechtliche Person behandelte, aber zugleich würde sein Erwachen den Wächter von seinen Phantasien abhalten.
    Und vielleicht würde das Jungwesen sich ihm nähern, so wie es sich ziemte, und dann würde er seine Phantasien nicht länger brauchen.
    Er wußte, daß die Knochen sich einigermaßen gut zusammengefügt hatten, als die Temperatur des Jungwesens auf ein normales Maß sank, obschon er es noch umhüllt hielt. Er legte seinen Flügel zusammen und rollte auf die Seite; er wollte nicht so nah bei dem Jungwesen liegen, wenn es erwachte. Langsam erhob er sich und humpelte in den Tempel.
    Später, als er seine Aufgaben vor dem alten Altar gerade beendet hatte, hörte er, wie sich draußen etwas rührte.
    Das Jungwesen war aufgewacht und zerrte an der Schiene. Der Wächter hockte sich neben ihm nieder und stieß seine Hand weg.
    „Ich bin geheilt, oder nicht? Sonst wäre ich nicht aufgewacht.“
    In seinen Phantasien hatte der Wächter die Feindseligkeit des Jungwesens vergessen oder außer acht gelassen; jetzt bestürzte sie ihn. „Ich hoffe, daß Ihr geheilt seid“, sagte er mit unbewegter Stimme. Er entfernte die Schiene und spreizte den Flügel sanft auseinander. Das Gewebe war weich und kühl. Er fand, daß es jetzt, wo das Jungwesen wach war, kaum leichter war, die Hände wieder fortzunehmen. Die Linie des Knochens lag sauber und scharf unter der feinen Haut. Der Knochen war nicht vernarbt, und der Hohlraum war nicht zugewachsen. „Ihr müßt ihn einige Tage lang bewegen, bevor Ihr ihn mit Euerm Gewicht belasten könnt.“
    Das Jungwesen berührte die Bruchstelle mit der anderen Hand, stand auf und öffnete seine Schwingen zu ihrer vollen Spannweite. Es lächelte, aber der Wächter bemerkte, daß der Flügel kaum merklich herabhing; die ungeübten Muskeln waren erschlafft und die Sehnen kontrahiert. „Ich denke, Ihr werdet wieder fliegen können“, sagte er, und er meinte es ehrlich.
    Das Jungwesen ließ plötzlich die Flügel sinken und taumelte. Sein Lächeln war verflogen, es war geschwächt von

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