Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
dieser leichten Anstrengung so kurz nach dem Erwachen. Alle seine Knochen standen hervor; sein Körper war halbverhungert und würde Zeit brauchen, um sich zu erholen. Der Wächter griff stützend nach ihm, aber das Jungwesen zuckte zurück, als er es mit dem Flügel, der sich nicht zusammenlegen ließ, streifte. Der Wächter sah auf, ihre Blicke trafen sich, und das Jungwesen wandte sich ab.
    „Vielleicht sollte jeder von uns die Schwächen des anderen mit etwas Nachsicht betrachten“, sagte der Wächter grausam und verletzt zugleich.
    „Weshalb? Du warst nicht gezwungen, mir zu helfen. Ich schulde dir nichts.“
    Der Wächter stand auf, ging ein paar Schritte und blieb stehen. „Nein“, sagte er. „Ich hätte Eure Knochen verdreht, wie sie waren, zusammenheilen lassen können.“ Er hörte das Rascheln der langsam sich öffnenden Schwingen, deren Spitzen über den Boden strichen.
    „Ich wäre gestorben“, sagte das Jungwesen, als wäre es ein Verbrechen, daß es noch lebte.
    „Das haben sie von mir auch geglaubt“, erwiderte der Wächter und sah es an, „als sie mich in den Jagdgründen zurückließen, für die Geier.“
    Das Jungwesen schwieg eine Weile. Der Wächter fragte sich, wie es wohl seine Kindheit überlebt haben mochte; entweder hatte jemand sich sehr intensiv darum gekümmert, oder es hatte sich überhaupt niemand etwas aus ihm gemacht. Man hatte es entweder zornig verteidigt oder buchstäblich ignoriert, bis sein Empfinden erwachte, und dann war es zu alt, um ausgesetzt zu werden. Der Tod wäre gnädiger gewesen als ein Leben in Ausgestoßenheit.
    „Sie ließen dich hier zurück. Warum hilfst du mir dann, anstatt mich zu hassen?“
    „Vielleicht bin ich schwach und kann den Anblick von Schmerzen nicht ertragen.“
    Das Jungwesen sah auf und blickte dem Wächter fest und unverwandt in die Augen. Sein Gesichtsausdruck war spöttisch. Sie wußten beide, daß der Wächter niemals überlebt hätte, wenn er schwach gewesen wäre. Das Jungwesen wandte seinen Blick zuerst ab, vielleicht weil es gewohnt war, seine Augen zu verbergen, damit man es in Ruhe ließ.
    Das Jungwesen öffnete seinen Flügel, es spreizte die langen Finger einen nach dem andern. Die Haut war so glatt, so glänzend, daß die Auroras sich darin spiegelten, scharlachrot und gelb, wie flammendes Feuer. „Es tut weh“, sagte es.
    „Dennoch müßt Ihr ihn bewegen. Vielleicht geht es, wenn ich Euch helfe, ihn zu spreizen.“ Er öffnete seinen eigenen, gebrochenen Flügel ein wenig, und man sah, wie verkürzte Sehnen die Knochen verzerrt hatten. „Ich weiß wohl, was man hätte tun müssen, während ich schlief.“
    Das Jungwesen betrachtete den Flügel einen Augenblick lang voller Faszination und Grauen. „Bitte, leg ihn wieder zusammen.“
    Der Wächter zog die Finger wieder an den Arm. Er mußte den Ellenbogen beugen, damit es gelang. Der zerrissene Flügel hing lose herab.
    „Es tut mir leid.“
    „Schon gut.“
     
    Ihr Umgang war jetzt von kristallener Behutsamkeit. Der Wächter hätte es vorgezogen, das Jungwesen überhaupt nicht mehr anzurühren, aber der Flügel brauchte seine Hilfe, und zudem weigerte er sich, seine Enttäuschung an einer Person auszulassen. Er hatte gehofft, daß seine eigene Entstellung nicht mehr wichtig sein würde; daß sie es doch noch war, war kaum die Schuld des Jungwesens. Sein Abscheu war vielleicht geringer als der der anderen, und vielleicht wurde er auch schwächer, aber er war noch vorhanden, unbestreitbar und unübersehbar.
    Allmählich glaubte der Wächter, daß er selbst ebensogut hätte sterben können. Er war stark genug gewesen, seinen Sturz zu überleben, stark genug, um unter einen Dornbusch zu kriechen und den Aasgeiern zu entrinnen, stark genug, um elf Tage zu schlafen und mit dem Leben davonzukommen. Er erinnerte sich, wie er aufgewacht war; er hatte durch das Dornengestrüpp gespäht und gesehen, wie die Leute draußen hockten und ihn beobachteten und seinem prophetischen Gemurmel lauschten. Einer trug hölzerne Latten, ein anderer Totenschleier; sie waren bereit, seine Schwingen zu spannen und ihn davonsegeln zu lassen, falls er sterben sollte. Selbst jetzt noch, wo sich seine Haut straff über seine ausgemergelten Glieder spannte, war er stark genug gewesen, auf sie zuzukriechen und ihnen mit einer Geste zu bedeuten, daß er leben würde, daß sie ihm helfen und ihn zu ihrem Seher machen konnten. Aber er war nicht stark genug für diese Einsamkeit und diese

Weitere Kostenlose Bücher