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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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auf dem grauen Stein.
    Er erhob sich und humpelte über den Hof, schneller als sonst, wenn er versuchte, sein Hinken zu verbergen. Als er das Handgelenk berührte, fühlte er den Puls, zu schwach und zu langsam. Seine Hände verharrten, wo sie waren, sie berührten feine Knochen unter dünnen Muskelsträngen und einer Haut, die so glatt war wie die eines Maulwurfs. Er entdeckte das Gefühl der Berührung wieder, die Reibung von sehr kurzem Pelz gegen anderen, ebensolchen, die Wärme des Kontakts. Es war lange her, daß er eine andere Person berührt hatte, sei es auch nur zur Begrüßung. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
    Die schmale Gestalt atmete zweimal, flach und kurz, als er sie berührte. Er sah den unnatürlichen Winkel, den die gebrochenen Knochen bildeten, und sanft und zärtlich drehte er die Gestalt auf die Seite, um sie aufzuheben.
    Schuldbewußt fuhr er zurück. Diese Person war ein Jungwesen, kaum erst ein Jungwesen, einer, der noch keine Entscheidung getroffen hatte.
    Seine Hände waren jetzt noch sanfter, als er das Jungwesen auf den Arm nahm – sanft, wie man ein Kind trägt.
    Er legte das Jungwesen auf sein eigenes hartes Bett vor dem Tempel. Es mußte vor Schmerzen zusammengebrochen sein. Der lange dritte Finger der linken Hand war gebrochen, und der Flügel, den sie trug, war zerknittert wie ein zerschmettertes Ionensegel. Der Wächter öffnete den dunklen Flügel und zog die langen, schmalen Finger vom Arm weg, wo sie eingeknickt lagen. Kein Knochen hatte die Haut durchbohrt, und auch die zarten Membranen waren nicht abgerissen oder eingeschnitten. Der Flügel würde heilen können. Der Wächter machte sich daran, die Knochen zu richten.
    Er hoffte, daß seine Sorgfalt fehlende Kenntnisse ersetzen und das Jungwesen vor einer Verkrüppelung bewahren würde. Als er beinahe fertig war, wurde ihm bewußt, daß er beobachtet wurde. Er sah auf.
    Es gelang ihm, nicht gleich wieder wegzusehen. Das Jungwesen hatte pastellgrüne Augen, die sein wohlgeformtes Gesicht häßlich machten. Der Wächter schaute wieder auf den gebrochenen Flügel, so beiläufig wie möglich. „Ich habe mein Bestes getan mit Eurer Hand“, sagte er; er sprach, wie man mit Kindern und Jungwesen spricht.
    „Ich habe versucht, über die Auroras hinwegzufliegen“, sagte das Jungwesen; sein Ton war trotzig und stolz, als erwartete es, gezüchtigt zu werden.
    „Das ist gefährlich“, sagte der Wächter mild. Über dem Tempel war die Atmosphäre ebenso wirr wie die lichtverhangenen Passagen.
    „Ich hoffte, ich würde umkommen.“
    „Eine tiefe Verzweiflung für einen, der so jung ist.“
    „Es stirbt“, sagte das Jungwesen. „Alles stirbt.“
    Der Wächter sah, daß es halb von Sinnen vor Schmerz und Erschöpfung war. „Schlaft“, sagte er.
    „Glaubst du mir nicht? Hast du es nicht gewußt? Man sagt doch, du seist ein Seher.“
    „Ihr seid recht zynisch.“
    Das Jungwesen antwortete nicht. Es wandte sich ab und versuchte unbeholfen, den zersplitterten Flügel zu spreizen.
    „Er ist nicht so hart wie die Erde“, sagte der Wächter. „Ihr solltet behutsam sein.“
    „Warum hast du mir geholfen? Warum kümmerst du dich um mich?“ rief das Jungwesen voller Verwirrung, Haß und Schmerz.
    „Schlaft jetzt“, sagte der Wächter.
    Er betrat den Tempel, um seine Aufgaben zu erfüllen; es waren nur wenige, und sie waren leere Tradition. Der Gott war nicht mehr da, er war lange vor seinen letzten, verspotteten Anbetern gegangen, wie Götter es immer tun. Der Wächter wußte das und machte sich keine Illusionen über seinen Status. Er hatte ihn durch Zufall erlangt, durch Glück und als Antwort auf Schmerzen, nicht als ein Gottesgeschenk. Er brachte seine Trankopfer einer Erinnerung dar, einem wirklichen Gott, der Seele der Dinge, die kein Bewußtsein hatten, und er war nicht hinausgewachsen, sondern vertrieben worden.
    Als er seine Rituale beendet hatte, kehrte er zu dem Jungwesen zurück, das einen heilsamen Schlaf schlief. Der Wächter fühlte den Puls an seinem Hals und die Temperatur und fand beides nicht ausreichend erhöht. Der delikate, schnelle Stoffwechsel ihrer Art bedurfte der Beschleunigung, wenn ein Heilungsprozeß in Gang kommen sollte. Der Wächter hockte sich in neuerlicher Besorgnis neben das Lager. Der zarte, große, gebrochene Flügel des Jungwesens lag auseinandergespreizt auf den grauen Steinen des Hofes, er isolierte nicht, sondern gab statt dessen selbst Wärme ab. Lange saß der Wächter

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