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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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regungslos da. Schließlich rührte er sich und legte sich behutsam auf die schmale Lagerstatt. Züchtig – und nach einigem schuldbewußtem Zögern – hüllte er das Jungwesen in seinen gesunden Flügel. Dann schlief auch er.
    Viel Zeit war vergangen, seit jemand gekommen war, um sich eine Prophezeiung zu holen, zu warten, während er zusammengesunken vor dem Altar kauerte, träumend, in Trance. Jetzt, da er neben dem Jungwesen lag, spürte er plötzlich eine Vision am Rande seines Geistes, aber sie war zu weit entfernt und zu schwach, als daß er sie hätte erfassen können. Alle Kraft des Jungwesens war nach innen gerichtet, nichts davon war übrig, um ihm Resonanz zu verschaffen. Im Schlaf bemühte er sich, die Vision zu erreichen, bis er erschöpft war, und dann träumte der Wächter nur noch. Er erwachte mit der Erinnerung an nahe Sterne, die ihn zu sich winkten, an hohe, dünne Luft und mit einem schmerzlichen Gefühl des Verlustes. Er hatte geträumt, daß er mit seiner Gefährtin flog, so hoch, daß die Erde sich unter ihnen wegkrümmte, gelb und braun und von weißen Wolkenfetzen übersät. Der Himmel war am Tag purpurn und golden, und zum Horizont hin verblaßte er zu einem hellen Blau, und des Nachts war er schwarz und silbern. Er hatte seine Gefährtin geliebt, aber sie war tot; und er hatte die Nacht geliebt, aber sie konnte er nicht mehr erreichen.
    Der Wächter lag still. Er wollte sich nicht bewegen und so den Schmerz neu entfachen. Aber er mußte; seine eigene Wärme hatte ein wenig geholfen, doch der Körper des Jungwesens mußte mit Nahrung versorgt werden.
    Die Vorräte des Wächters waren nicht sonderlich geeignet, genügend Energie zu liefern. Niemand hatte ihm mehr Fleisch gebracht, und jagen konnte er nicht. Er war ein Krüppel, und er taugte nur dazu, einem verlassenen Gott zu dienen. Er hob seinen Flügel, legte ihn lautlos zusammen und erhob sich, um Körnerbrei und Brühe zu bereiten. Er bewegte sich langsam und verbarg seinen Schmerz hinter Vorsicht und scheinbarer Anmut. Früher, als noch Leute gekommen waren, war er ihnen ebenso anmutig entgegengetreten, und schon nach kurzer Zeit hatten die Kinder ihren Widerwillen verloren. Die Erwachsenen zogen es vor, weiter Angst und Unsicherheit vorzutäuschen, denn sie kamen zum Tempel um der Erregung willen und um sich in Selbstbeherrschung zu üben, so wie sie über einen aktiven Vulkan hinweggleiten oder einem Wirbelwind nachjagen mochten. Manchmal konnte ihre Angst auch echt sein. Wenn sie lange genug blieben, erzählte er ihnen bisweilen von ihrem Tod, in rätselhaften Visionen, die sie erst dann erkannten, wenn der Zeitpunkt gekommen war. So war es üblich bei den Sehern. Aber die Leute waren fort. Sie brauchten ihn nicht mehr. Sie hatten ihn lange Zeit nicht wirklich gebraucht, und vielleicht hatten sie ihn überhaupt niemals gebraucht.
    Der Wächter trug die Brühe nach draußen und hielt dem Jungwesen die flache Schale an die Lippen. Dieses, halbwach, mit halb geöffneten Augen, schien den Gemüsegeschmack nicht zu bemerken. Der Wächter spürte die dünnen, straffen Muskeln und die glatte Haut unter seiner stützenden Hand, aber zugleich sah er auch wieder die häßlichen Augen. Sie waren wie weiche, gallertige Tiere oder Pflanzen, die im Dunkeln wuchsen und im Sonnenlicht starben. Er beneidete das Jungwesen um seine Flügel, aber die Augen erfüllten ihn mit Bedauern. Sein Patient würde niemals weit über die Wolken hinausfliegen können, ohne zu erblinden.
    Das Jungwesen murmelte etwas Unverständliches und schlug nach der Hand des Wächters, so daß die fast leere Schale klappernd auf das Steinpflaster fiel. Der Wächter hockte sich nieder, doch das Jungwesen schlief bereits wieder. Nach einer Weile legte sich auch der Wächter wieder auf das Lager und entfaltete seinen gesunden Flügel. Er ließ seine Hand über die Brust des Jungwesens gleiten und folgte mit einer langsamen, sanften Bewegung den scharfen Linien der Rippen unter der weichen Haut. Das Jungwesen bewegte sich im Schlaf. Plötzlich schuldbewußt, ballte der Wächter seine tastenden Finger zu einer Faust und blieb starr liegen.
     
    Zwischen den Auroras war ein Tag nicht vom anderen zu unterscheiden. Die Lichtvorhänge hielten die Sonne ab und ließen die Dunkelheit erstrahlen. Ohne sich an Licht und Dunkel orientieren zu können, konnte der Wächter nicht sagen, wie lange das Jungwesen schlief. Er wußte nur, daß sein Zustand immer schlimmer wurde. Er konnte nicht

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