Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
Verlassenheit.
     
    Ein schriller Aufschrei riß ihn aus seinem Dösen; halbwach, verwirrt und erschöpft sah er sich um. Wieder hörte er ein Geräusch: einen Schrei, der ganz abrupt abriß. Er legte seine Flügel zusammen und ging in den Hof.
    Er fand das Jungwesen gegen die Tempelwand gelehnt; es saugte an der Halsschlagader eines Kaninchens, das gerade erst getötet worden war; ein Hinterbein zitterte noch krampfhaft. „Woher habt Ihr das? Tiere kommen niemals durch die Auroras.“
    Das Jungwesen begann, das kleine Tier mit zierlichen Fingern an den Gelenken auseinanderzureißen. „Vielleicht hat es geglaubt, du würdest ihm seine Zukunft deuten.“ Es streckte seine silbernen Krallen aus und fing an, das Fleisch von einem der zarten Knochen zu reißen.
    „Mache ich mich etwa lustig über Euch?“
    Das Jungwesen drehte den Kadaver eine Weile gedankenvoll in seinen Händen. Dann sah es auf, die Auroras fingen sich in seinen Augen und ließen sie grausig aufstrahlen. „Hast du sie nicht gehaßt, als du begriffen hattest, daß sie dich zurücklassen würden? Wolltest du sie da nicht zerfetzen, zerreißen, sie fragen, mit welchem Recht sie so taten, als seist du bedeutungslos?“
    Der Wächter schwieg einen Moment und sagte dann: „Es hat mich geschmerzt.“
    Er war in den Tempel hineingegangen und bei der hinteren Wand stehengeblieben, vor der durch Alter und Vernachlässigung verfallenden Statue. Nach Jahrhunderten war der Wächter der erste, der ihr so etwas wie Glauben entgegenbrachte. Langsam und unter Schmerzen hatte er seine Flügelfinger entspannt, bis ihn die vernarbte Membran halbgefaltet umhüllte. „Warum haben sie mir geholfen?“ hatte er weinend gerufen. „Wenn sie kein Orakel brauchten, warum haben sie mir dann geholfen? Und wenn sie eines brauchten, warum haben sie mich dann zurückgelassen?“ Aber der alte Gott hatte nicht geantwortet, denn selbst wenn der Glaube des Wächters echt war, dann war er nicht groß genug gewesen, um den Gott zurückzubringen.
    „Es hat mich geschmerzt“, sagte er noch einmal.
    Er erwartete Worte der Geringschätzung, aber das Jungwesen hielt den Blick gesenkt und streichelte das besudelte Fell des Kaninchens. „Unsere Welt empfindet auch Schmerz“, sagte es leise. „Sie haben ihr die Seele gestohlen und alles Leben ausgesaugt. Unser Volk hat nichts getan als zu versuchen, ihr zu entrinnen, und doch trauert sie.“
    Der Wächter berührte sanft seine Schulter. „Es muß Euch einsam erscheinen. Aber mit der Zeit …“
    Das Jungwesen gab einen Laut des Abscheus von sich. „Es ist keine Zeit mehr vorhanden. Ich hoffe … ich hoffe, sie müssen zurückkehren. Ich hoffe, sie müssen flüchten, zurück auf diese Welt, die sie so verabscheuten, denn sie werden sie tot und verödet finden, so daß sie nicht mehr dort leben können, und dann werden sie sterben.“
    „Von dieser Generation wird niemand zurückkehren. Ich habe den Tod von einigen, die fortgegangen sind, geträumt, und es war keine Katastrophe. Die Schiffe werden weiterhin fortziehen, zumindest solange wir leben.“
    Das Jungwesen stand auf und ging ein paar Schritte, zornig und mit angespannten Muskeln; es spreizte die Schwingen und ließ die Spitzen über die staubigen Steine streifen. Seine Klauen waren immer noch blutig. „Du würdest jedem deine Phantasien anstelle der eigenen auf schwätzen.“
    „Sie sind alles, was ich noch geben kann.“
    „Aber unserem Volk haben sie nicht genügt, und alles, was du tust, ist trauern.“ Das Jungwesen drehte sich um und faltete mit einem anmutigen, weichen Schnappen die Flügel gegen die Arme. „Etwas wird geschehen, eines Tages, und dann werden sie zurückkehren müssen. Sie werden die Segel spannen und die Strahlen irgendeiner fernen Sonne fangen, und sie werden dankbar sein, daß sie einen Ort haben, an den sie heimkehren können. Aber sie haben sich nie die Mühe gemacht, diesen Ort einmal anzusehen, sie haben nur immer daran gedacht, wie sie ihn verlassen könnten. Und jetzt stirbt er, und wenn sie zurückgekrochen kommen, wird nichts mehr dasein.“
    Jetzt wurde dem Wächter klar, was das Jungwesen da sagte. „Ihr müßt Wahnvorstellungen gehabt haben, in Eurer Trauer und in Eurem Schmerz“, sagte er. „Eine Welt kann nicht sterben.“
    Das Jungwesen blitzte ihn wütend an; es wandte den Blick nicht, als könnte es im Zorn seine Schande vergessen. „Diese Welt stirbt. Wenn du schlafen und dich darauf einstellen wolltest, so wie du es für die

Weitere Kostenlose Bücher