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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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geflogen. Er hatte andere davon sprechen hören, aber noch niemals zuvor konnte jemand die Farben gesehen haben, die jetzt in seinen Augen waren. Seine Pupillen zogen sich im Reflex zu Stecknadelköpfen zusammen. Mühsam kämpfte er sich höher. Seine Gefährtin rief ihm zu: „Siehst du?“, und er rief: „Ich sehe!“, und sehr leise, wie es schien, sagte sie:
    „Sei vorsichtig, Geliebter, denn ich bin blind.“ Er sah in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. Sehr undeutlich konnte er sie erkennen, winzig und höher, als sie je zuvor geflogen war, höher als er überhaupt jemanden hatte fliegen sehen; ihre Augen blickten weit offen in die Strahlung, und die Schleier schienen neben ihr dahinzuschweben. Er sah, wie ihre Schwingen sich versteiften, und er wußte, daß sie tot war.
    Als wieder ein Schauer von subatomaren Teilchen in seinen Augen explodierte, heller als jeder Funke, der den Schild ihres Ionenbootes durchdrungen hatte, da wußte er, daß er zu hoch geflogen war, als daß seine Flügel ihn noch hätten tragen können, und er fühlte, wie er anfing zu fallen.
    Als im Kampf gegen die senkrechten Winde sein Flügel zerriß, da hätte er sich vielleicht in den Tod fügen sollen. Er kämpfte weiter und verlangsamte seinen Fall, aber schließlich hatte die Erde ihn gepackt und zerschmettert.
    „Wächter …“
    Das Wort und eine Berührung an seiner Hand riß ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken sah er auf. Das Gesicht des Jungwesens spiegelte Furcht und Unentschlossenheit. Es legte seine Flügelfinger zusammen und faltete die glatte Membran. „Er ist nicht mehr steif.“
    „Ich habe mich an etwas erinnert“, sagte der Wächter. „Eure Worte gaben mir Hoffnung, und ich … es tut mir leid.“
    „Es ist schon gut.“ Noch immer berührten seine Finger mit halbausgestreckten Krallen die Hand des Wächters. „Nichts sollte zweimal sterben müssen“, sagte es. „Wenn wir unser Volk fortführten, würde die Welt unsere Kinder töten, oder die Kinder würden die Welt wieder töten.“
    „Ihr seid nicht gerecht“, sagte der Wächter. „Ein Ausdruck meiner Erinnerung hat Euch erschreckt, aber ich habe um nichts gebeten.“
    „Es stimmt, daß ich erschreckt bin.“ Es berührte den Hals des Wächters, ließ die Hand auf seine Schulter gleiten, den Arm hinunter und über die Flügelfinger zurück, und diesmal zuckte es nicht zurück. „Von deiner Güte und deiner Kraft.“
    „Ich verstehe Euch nicht.“
    „Ich glaube, daß ich mich deinetwegen ändern würde.“
    Zögernd lehnte der Wächter sich zurück und entzog sich den Händen des Jungwesens. „Ihr wollt also fort?“
    „Ich muß.“
    Die Auroras führten das Jungwesen über einen langen, gewundenen, richtungslosen Pfad in die Hügel. Draußen hätten die Dornbüsche blühen müssen. Das Jungwesen stand am Rande der leuchtenden Wachtposten und sah hinaus über das Land, auf das braune und schwarze Gestrüpp aus verfilzten, sterbenden Ästen. Der Wind blies heiß gegen seinen Körper, und nichts rührte sich, soweit sein Auge reichte. Es fühlte den Tod und zugleich einen häßlichen Triumph, der ihm jetzt kein Vergnügen mehr bereitete. Es sah sich um, und fast wäre es umgekehrt, aber dann streckte es sich und breitete die Flügel aus. Der Wind fing sich in den Häuten. Es spürte die Stelle, an der die Knochen gebrochen waren, und zögerte.
    Angewidert von seiner Angst erhob es sich von der Spitze des Hügels, glitt seitwärts in einen Luftstrom, schwenkte aufwärts und flog.
     
    Nachdem das Jungwesen fortgegangen war, verstrich die Zeit in seltsamer Weise. Es mag wenig oder viel später gewesen sein, als die alten Bruchstellen in den Knochen des Wächters ohne Unterlaß zu schmerzen begannen. Er hatte angefangen zu altern, und wenn das Altern bei seinem Volk einmal begonnen hatte, schritt es sehr schnell fort. Sein scharfes Auge trübte sich allmählich. Nur Feiglinge und Schwächlinge lebten lange genug, um auf natürliche Weise zu erblinden. Er wußte, daß er sich nicht gestatten sollte, länger zu leben, doch er unternahm nichts. Er wollte nicht auf der Erde sterben, und er träumte davon, angemessen zu sterben, blind von der Strahlung, fliegend.
    Er fühlte, wie sanfte Hände ihn aus seinem Dösen weckten. Vielleicht war auch alles nur ein Traum.
    „Wächter, ich bin zurückgekommen.“
    Er hob den Kopf und blickte ruhig in ein Gesicht, dessen Augen es häßlich machten. „Ihr seid es.“
    „Nicht mehr“, sagte er. „Schon lange

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