Feuerflut
Maschinen des Luftkissenfahrzeugs röhrten auf. Niemand war an Bord gegangen, niemanden hatte man auf den Nordkontinent in die Freiheit entlassen.
Das Boot erzitterte und schwebte die Rampe hinunter, dann durch die Einfahrt auf die glasige graue Oberfläche des Wassers hinaus. Das Tor schloß sich wieder. Kylis war ein wenig enttäuscht, denn die Landung hatte sich genauso abgespielt wie all die anderen seit ihrer eigenen Ankunft. Es gab keinen Weg, um an Bord des Fahrzeugs zu gelangen. Der gewohnte Ablauf der Ereignisse ärgerte sie. Für eine Raumhafenratte war es demütigend, anerkennen zu müssen, daß ein Oberflächenfahrzeug derart perfekt gegen ein Eindringen abgeschirmt war. Sie sah keine Möglichkeit, von Brückenkopf zu fliehen, nicht für sich allein und erst recht nicht für sich, Jason und Gryf. Und wenn es ihr nicht gelang, eine Möglichkeit zur Flucht zu finden, war zu befürchten, daß Jason wirklich versuchen würde, durch den Sumpf zu entkommen.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar und schüttelte den Kopf, um den feinen Regen, der sich in großen Tropfen darin verfing, abzuschütteln. Ihre Hände glitten über Gesicht und Nacken. Die Hitze und der Regen – sie haßte beides.
In ein oder zwei Stunden würde der Abendregen in Strömen herabprasseln und den Nebel wegspülen. Doch wenig später würde der feine, allgegenwärtige Nieselregen von neuem beginnen. Diese Art Regen schien nicht zu fallen, sondern hing in der Luft und sammelte sich auf Körper und Haar, in den Ästen der Bäume und in den Zelten.
Kylis griff nach einer überhängenden Pflanze und riß einige ihrer schwarzroten Zweige ab, die sie ärgerlich zu Boden warf.
Sie erhob sich, doch dann kauerte sie sich erneut in ihrem Versteck nieder. Unten ging Miria auf den Zaun zu, preßte ihre Finger gegen das handtellergroße Schloß und wartete, wobei sie über ihre Schulter blickte, um sich zu vergewissern, daß sie allein war. Als das Tor aufschlug und Miria, eine Gefangene, allein und frei das Gelände der Wachen betrat, fühlte Kylis, wie ihre Knie nachgaben. Miria verharrte an der Kuppel, und die Tür wurde ihr geöffnet. Kylis glaubte die Echse im dämmerigen Inneren zu sehen.
Das konnte nur eines bedeuten: Miria war ein Spitzel. Kylis begann vor Ärger und Furcht zu zittern, Furcht vor dem, was Miria der Echse erzählen konnte und das dazu beitragen würde, den Druck auf Gryf noch zu verstärken, und Ärger über sich selbst, weil sie Miria vertraut hatte. Erneut hatte sie einen Fehler in der Einschätzung fremder Personen gemacht. Dem letzten Fehler dieser Art hatte sie ihren Aufenthalt hier zu verdanken, aber dieses Mal konnten die Konsequenzen ungleich schlimmer sein.
Sie saß im Schlamm und im Regen und überdachte das Geschehene, bis ihr einfiel, daß Gryfs Schicht in wenigen Minuten endete. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit, um Jason zu wecken.
Als Kylis der Wächterkuppel den Rücken kehrte, war Miria noch nicht wieder herausgekommen.
Kylis erreichte das Bohrloch einige Minuten zu spät. Die dritte Schicht war schon beendet; alle Gefangenen waren draußen und verliefen sich langsam. Gryf war nirgends zu sehen, und er war gewiß nicht unscheinbar. Sie begann sich zu sorgen, denn Gryf war üblicherweise immer unter den ersten, niemals der letzte – er trödelte selten. Sicherlich würde er sie erwarten.
Sie wartete unentschlossen, besorgt, nachdenklich. Vielleicht hatte er etwas bei den Zelten gesucht.
Sie glaubte nicht daran. Sie blickte hinunter auf die Sohle der Grube. Dann geschah alles zur gleichen Zeit. Sie vergaß Miria, die Echse, das Gefängnis. Sie rief nach Jason, doch sie wußte, er würde sie über die weite Entfernung nicht hören. Sie rannte den Hügel hinunter, wobei sie ständig gegen den Schlamm ankämpfte, der sich an ihren Schuhen festsaugte. Zwei Männer, die sie kannte, stapften mühsam den Trichter hinauf – Troi, knochig, mit harten Konturen, sardonisch, und Chuzo, kräftig gebaut und in sich zurückgezogen. Beide waren sehr jung, und beide alterten hier sehr rasch.
Sie trugen Gryf zwischen sich.
Asche und Fett bedeckten das Muster seiner Haut. Kylis wußte, daß er am Leben war, denn niemand in Brückenkopf verschwendete auch nur ein Quentchen Energie für einen Toten. Sich nähernd konnte sie tiefe Striemen sehen, die von Peitschenhieben herrührten. Seine Handgelenke waren an den Stellen aufgescheuert, wo man ihn zum Vollzug der Strafe gefesselt hatte.
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