Feuerflut
und sprang vom Rand der Plattform auf den Boden hinunter.
Vorsichtig näherte sie sich dem Nahrungsverteiler. Auf Rotsonne wurden Gewaltverbrecher in Rehabilitierungsanstalten gebracht, nicht in Arbeitslager. Kylis war froh darüber, denn sie erinnerte sich nicht gerne an die Geschichten über gehorsame Marionetten mit leeren Augen, die aus der Rehabilitierung zurückkehrten.
Doch es kam hin und wieder vor, daß Gefangene einfältig oder verzweifelt genug waren, um anderen Gewalt anzutun und sie zu bestehlen. In Brückenkopf war es am sichersten, sich weder in die Schuld von Freunden noch von Feinden zu begeben. Rache war zu einfach hier. Die Untergrundvereinigung der Raumhafenratten war nicht frei von Psychopathen gewesen; Kylis wußte, wie sie sich verteidigen mußte. Hier hatte sie noch niemals auf die ihr bekannten Methoden zurückgreifen müssen. Sollte sie jemals in Schwierigkeiten kommen, so bot das Bohrloch gute Möglichkeiten, um körperlich starke und schwache Personen einander gleichzustellen: Fehler konnten eingeplant, Maschinen sabotiert werden.
Die neuen Schichtpläne hingen aus, und Kylis war erfreut zu sehen, daß sie und ihre beiden Freunde der gleichen Schicht, der Nachtschicht, zugeteilt worden waren. Sie eilte zurück, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen, doch Jason schlief, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken. Gryf war gegangen. Kylis warf die Rationen in den Spind und setzte sich in eine Ecke. Ein aasfressendes Insekt kroch über den mit Farnwedeln ausgelegten Boden. Kylis fing es und legte es in die Nähe vom Dummerchen, wo sie es festhielt, bis die Spinne den Bau ihres neuen Netzes unterbrach und sich auf das Insekt stürzte, es betäubte, in Seide einspann und dann wegtrug. Kylis fragte sich, ob ihre Spinne je schlief, wenn Spinnen überhaupt Schlaf benötigten. Dann stahl sie das neugefertigte Netz.
Ihre Unruhe wuchs. Sie wußte, Gryf konnte auf sich selbst aufpassen. Das tat er immer. Er hatte wahrscheinlich noch nie seine Grenzen erreicht, doch selbst Gryf konnte seine Kraft und Ausdauer überschätzen. Er hatte kaum eine Stunde geschlafen.
Kylis wurde mit der Zeit immer nervöser. Schließlich sprang sie wiederum in den Schlamm hinab.
Das Wasser sammelte sich rasch in den neuentstandenen Fußabdrücken unter den Zelten, Gryf hatte keine Spur hinterlassen, die sich von den anderen Abdrücken im Lehm unterschieden hätten. Mit Intuition und einer vagen Vermutung, wo er sich aufhalten könnte, ging sie in den Wald. Über ihr schwirrten große Insekten, deren klauenbewehrte Flügelspitzen fast die Ausläufer der Farne berührten. Es war dunkel, die Sternbilder, die sich wie die halbrunden Stützen einer großen Kugel am Himmel erstreckten, leuchteten schwach durch die Wolkenfetzen.
Kylis wurde durch ein Kitzeln ihres kurzen Haares im Nacken zutiefst erschreckt und überrascht. Sie duckte sich und drehte sich um. Gryf blickte auf sie hinab, lächelnd, amüsiert.
„Kylis, meine Liebste, du solltest dich nicht dauernd um mich sorgen.“
Jedesmal, wenn er sprach, war sie aufs neue von der Sanftheit und dem Klang seiner Stimme überrascht.
Seine Augen waren geweitet, die Iris war nur ein kleiner Kreis aus Licht und dunklen Streifen.
Alle paar Wochen starb jemand durch den Saugschleim. Er wuchs in Klumpenform im Wald und glich in etwa einer purpurnen Qualle. Er war halluzinogen und giftig. Kylis hatte sich schon oft mit Gryf gestritten, weil er das Zeug benutzte, bevor ihr Aufenthalt in der Sensorischen Entziehungskammer ihr gezeigt hatte, wie Brückenkopf auf ihn wirken mußte.
„Gryf …“
„Mach mir keine Vorwürfe!“
„Nein“, sagte Kylis. „Niemals mehr.“
Ihre Antwort verblüffte ihn nur einen Augenblick; daß er überhaupt verblüfft war, zeigte ihr, wie sehr ihn die Ereignisse ausgezehrt hatten. Er nickte und umarmte sie.
„Nun verstehst du es“, sagte er mit Sympathie und Verständnis. „Wie lange ließen sie dich in der Kammer?“
„Acht Tage. Das jedenfalls wurde mir gesagt.“
Seine Hand glitt empor und streichelte ihr Haar. „Armes Mädchen, es erschien mir viel länger.“
„Es spielt keine Rolle mehr. Es ist vorbei.“ Sie glaubte daran, daß die Halluzinationen aufgehört hatten, aber sie fragte sich, wie sie jemals völlig sicher sein konnte, daß sie nie mehr zurückkehrten.
„Glaubst du, die Echse ließ dich meinetwegen dorthin bringen?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, er würde jedes Mittel anwenden, von dem er glaubt,
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