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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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verkleiden: mit dunklen oder mittleren Hauttönen, ohne Haar, mit langem Haar, mit lockigem Haar, mit gefärbtem Haar. Das Braun war es fast: anonym. Und die Art, wie sie sich verändert hatte, war subtiler als bloße Verkleidung. Ihre Arroganz hatte sich verringert, und ihre unbezwingbare Zuversicht war verschwunden; das Selbstvertrauen war ihr geblieben – es war alles, was sie hatte –, aber es war jetzt gemäßigt und reifer. Sie hatte gelernt zu zweifeln, anstatt einfach in Frage zu stellen.
    Das verfremdete Gesicht in dem 3D war trotz seiner Arroganz nicht grausam, sondern sanft, und diese Eigenschaft hatte sie nicht verändern können.
    Sie hatten zwei Monate gebraucht, um sie aufzuspüren. Ihre Kreditnummer konnten sie nicht verfolgt haben, denn sie hatte aufgehört, sie zu benutzen, bevor man sie für ungültig erklären konnte. Sie würden nur gewußt haben, wie weit sie kommen konnte, bevor ihr das Bargeld ausging. Natürlich war sie weiter gekommen, aber damit hatten sie wahrscheinlich gerechnet.
    Nun, da sie wußten, wo sie war, gab es zwischen jetzt und später kaum einen Unterschied, und jetzt war es noch hell draußen. Während sie sich langsam wieder in den Schlaf sinken ließ, versuchte sie sich vorzustellen, wie sie ein Bild von jemandem, den sie einmal getroffen hatte, nicht wiedererkennen konnte. Es gelang ihr nicht.
     
    Lais erwachte um sich schlagend aus einem Alptraum. Die blauen Bilder des 3D hatten sie attackiert und überwältigt, und ihre Computer waren ihr nicht zu Hilfe gekommen. Der alte Mann nahm abrupt und schuldbewußt seine Hände von ihren Schultern, als er merkte, daß sie wach war. Das fensterlose Zimmer war stickig. Lais war am ganzen Körper feucht von fiebrigem Schweiß. Sie hatte Kopfschmerzen, und ihre Knie waren wund.
    „Es tut mir leid, Miss – ich hatte Angst, Sie würden sich verletzen.“ Offenbar hatte man ihn sein ganzes Leben lang herumgestoßen und beschimpft, daß er jetzt solche Angst hatte, ein menschliches Wesen zu berühren.
    „Es ist schon gut“, sagte sie. Es schien, als ob sie nie etwas anderes zu ihm sagte. Ihre geistige Uhr versuchte summend und springend die Wirklichkeit einzuholen: Zwölf Stunden waren vergangen, seit das 3D sie aufgeweckt hatte.
    Der alte Mann saß stumm da; vielleicht erwartete er ihre Befehle. Er sah sie unverwandt an, aber die Art, wie er sie betrachtete, hatte etwas Seltsames, ängstlich Kindliches, und in seinem Blick lag kein Wiedererkennen. Er schien nicht bemerkt zu haben, daß es sich bei seiner Herumtreiberin um den Institutsflüchtling handelte. Offenbar lebte er in zwei verschiedenen Wirklichkeitssphären. Als sie seine Augen musterte, senkte er den Kopf und zog die Schultern hoch. Seine Hände lagen schlaff und halbgeschlossen in seinem Schoß. „Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Sie schreien mich an, wenn ich dumme Fragen stelle.“ Keinerlei Bitterkeit, nichts als klaglose Hinnahme des Urteils, daß jede Frage, die er stellen konnte, zwangsläufig eine dumme Frage war.
    Sie bezwang ihren aufflammenden, nutzlosen Ärger. Es wäre grausam, Haß in ihm zu wecken. „Es war schon richtig“, sagte sie. Sie hätte dasselbe gesagt, wenn er sie in seiner Unschuld verraten hätte. Zwei andere Bahnen einer möglichen Realität vereinten sich in ihren Gedanken: sie selbst, wie sie vor zwei Monaten oder vor einem Jahr gewesen war, auf irgendeine Weise unverändert durch Exil und Desillusionierung, und ein alter Mann, der für das kranke Mädchen in seinem Zimmer die Fürsorge rief. Sie hätte ihm ganz genau gesagt, was sie dachte, ohne Rücksicht auf seine Gefühle; sie hätte ihn nicht mit Mitgefühl betrachtet, sondern mit jener Art von unpersönlichem Mitleid, das an Verachtung grenzt. Aber in einer Hinsicht wären sie einander ähnlicher gewesen: Keiner von ihnen hätte die Isolation ihres Lebens erkannt.
    „Sind Sie hungrig?“
    „Nein.“ Das war einfacher, als wenn sie versucht hätte, ihm zu erklären, warum sie zwar hungrig war, aber nicht essen konnte. Er akzeptierte ihre Antwort ohne Rückfrage oder Überraschung und schien immer noch auf ihre Anweisungen zu warten. Sie erkannte, daß sie bleiben konnte, ohne daß er es jemals wagen würde, sich zu beklagen – vielleicht würde er es auch nicht wollen –, oder daß er wagen würde, jemandem zu verraten, daß sie hier war. Wenn er einer von den Plastikleuten gewesen wäre, hätte sie ihn vielleicht benutzt, aber das war er nicht, und so konnte sie es nicht:

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