Feuerflut
ebenmäßigen Fluß natürlicher Evolution, hier und da unterbrochen von kurzen Sprüngen und Drehungen, Leerstellen und wurzellosen Ästen, die die fremdartige, menschliche Anwesenheit hinterlassen hatte. Ihre Genauigkeit war außergewöhnlich. Lais hatte nicht gedacht, daß sie noch zu freudiger Stimmung fähig war, aber sie lächelte unwillkürlich, und ein paar Augenblicke lang vergaß sie Schmerz und Erschöpfung.
Die zweite Karte zeigte weniger Blau und mehr Rot, aber sie erschien stimmig und logisch. Ihre Daten stammten aus einem Stück Blankprobe von einer unerforschten Welt, und sie zeigte, daß die Programme mit großer Wahrscheinlichkeit taten, was sie tun sollten: Sie deduzierten Struktur und Relationen der lebenden Bestandteile einer Welt.
Lais’ frühere Forschungsarbeit hatte Resultate hervorgebracht, die von Normalen kaum verstanden und erst recht nicht verwendet werden konnten. Ihre eigene Art würde sie schließlich weiterführen und darauf aufbauen, allerdings nicht, solange sie lebte, und vielleicht nicht einmal solange sie hätte leben sollen. Diesmal hatte sie das Ziel gehabt, die Grenzen der Theorie in der Anwendung auf Minimaldaten zu entdecken, und die Anwendbarkeit war jetzt nicht nur offenkundig, sondern von großem potentiellem Nutzen. Wenn die Bluthunde sie aufstöberten, würden sie ihre letzten Programme finden, und man würde sie anwenden. Lais zuckte die Achseln. Wenn sie rachsüchtig hätte sein wollen, hätte sie versucht, die Arbeit nicht zu Ende zu führen, aber ihr Verstand, ihre Neugier und ihr Wissensdurst waren nicht Dinge, die sie nach Belieben ein- und ausschalten konnte, um Resultate zu produzieren wie Kekse.
Der Bildschirm blinkte. Ihre Zeit war längst abgelaufen, und der Computer fing an, die Hindernisse abzubauen, die sie seinem Zählwerk eingegeben hatte. Aber für den Augenblick hielten sie noch, und gehorsam begann der Computer, nach der Karte und den Programmen auch die Datenblocks auszudrucken. Sie wollte ihn abschalten, doch dann zog sie ihre Hand zurück.
Zwischen Kristallstrukturen und Massenspektralkomplexen huschte eine RNS-Sequenz vorbei, beinahe unbemerkt, beinahe unbemerkbar, aber dennoch erregte sie ihre Aufmerksamkeit. Zunächst glaubte sie, sie stamme aus der Blankprobe. Sie holte sie zurück und brachte sie auf den Bildschirm. Die Stadtcomputer verfügten ausnahmslos über die falschen Programmbibliotheken und überhaupt – wer machte sich noch die Mühe, eine RNS zu übersetzen? Sie suchte sich eine Stelle, die ihr richtig zu sein schien, und machte es aus dem Gedächtnis; für Lais war es kaum etwas anderes als Maschineschreiben. AUG, Adenin, Uracil, Guanin. Anfang: Methionin. Das Leben ist überall dasselbe. Der Computer baute eine Kette von Aminosäuren wie eine Perlenschnur, zweidimensional, in kühner 3D-Maskerade. Lais schob eine Entropie ein und ließ die Kette sich zusammenfalten. Als das geschehen war, verdoppelte sie sie einmal und dann noch einmal und fügte eine Kopie der dazugehörigen RNS hinzu. Wieder flackerte der Bildschirm; die Öffnungen, die sie in den Sicherheitsvorrichtungen des Computers bewirkt hatte, fingen an sich zu schließen, und bald würde der Alarm ertönen.
Die Einzelteile auf dem Bildschirm begannen mit dem Prozeß der Selbstaggregation, und als sie damit fertig waren, hatte sie, in millionenfacher Vergrößerung, eine leuchtend grüne Reproduktion von etwas, das an den Grenzen des Lebens existierte. Es war ein Virus, das war ganz offensichtlich. Sie konnte nicht bleiben, um das ganze Genom zu übersetzen und dann die Äquivalente für die Enzyme zu suchen, die es brauchen würde. Sie brauchte es auch nicht. Alle ihre Erfahrung, Erinnerung und Intuition sagten ihr, daß es sich um ein Tumorvirus handelte. Noch einmal blickte sie auf den Ausdruck, und sie erkannte mit schleichendem Schrecken, einem Gefühl von freiem Fall, daß es von den Kontrolldaten stammte.
Es gab ein Dutzend möglicher Erklärungen. Jemand konnte das Virus als Träger bei der Gen-Chirurgie benutzt haben, indem er die gefährlichen Partien durch Gene ersetzt hatte, die es dann in ein Chromosom einfügen konnte. Sie züchteten auf dieser Außenstation keine Monstren, aber vielleicht hatten sie dort die Virusfamilien hergestellt, mit denen man die Monstren infizierte, wenn sie noch nicht mehr als einzellige Zygoten waren. Vielleicht hatte sich jemand nicht sorgfältig genug an die sterile Arbeitstechnik gehalten, vor allem, wenn nicht gesagt
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