Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
dafür, und vielleicht nicht einmal diese, würde ihnen sagen können, ob nicht einige von ihren Kameraden fünfzehn oder fünfzig Jahre zu spät sterben würden, ob nicht eine fehlerhafte biologische Uhr ihnen Zeit geben würde, sich zu etwas zu entwickeln, was das Institut nicht länger kontrollieren, geschweige denn verstehen konnte. Diese Möglichkeit würde zum Schrecken ihrer Tage und zum Alptraum ihrer Nächte werden.
    Und ihre eigenen Leute, die anderen Zöglinge, würden kaum bemerken, daß sie weg war: Sie empfand ein plötzliches Schuldgefühl bei diesem Gedanken. Leute, die sie gekannt hatte, waren ganz unvermittelt verschwunden, und an die Ausreden dafür hatte sie sich so sehr gewöhnt, daß sie aufgehört hatte, nach ihnen zu fragen. Hatte sie überhaupt jemals gefragt? Es gab so viele Welten, solch riesige Entfernungen, so viele Möglichkeiten: Die Mobilität schien grenzenlos zu sein. Lais hatte niemals auch nur ein ganzes Jahr auf einer einzelnen Außenstation verbracht, und selten hatte sie Bekannte nach einer vorübergehenden Projektzusammenarbeit oder nach flüchtigen sexuellen Begegnungen wiedergesehen. Sie hatte keine emotionalen Bindungen, niemanden, der ihr helfen, dem sie vertrauen konnte, niemanden, der sie gut genug kannte, um zu beurteilen, ob sie gegen allen Anschein noch bei Verstand war. Die Zöglinge waren eigenbrötlerische Spezialisten auf Gebieten, die zu esoterisch waren, als daß man sie ohne den Anreiz gewisser intellektueller Interaktion hätte diskutieren können. Der Mangel an Kommunikation hatte Lais in jenen Tagen nie gestört, aber jetzt kam es ihr barbarisch vor, beinahe unvorstellbar.
    Die klare Suppe nahm die Kälte weg, und geringfügigere Unbequemlichkeiten begannen sich bemerkbar zu machen. Der dicke Mantel war zu warm, aber sie trug ihn wie einen Panzer. Ihr Haar und ihre Kleider waren feucht, und der schwere Stoff ihrer Hosen begann zu jucken, als er wärmer wurde. Ihr Gesicht fühlte sich ölig an.
    Die Trivialitäten versanken. Sie hatte die Forschungsarbeit wieder aufgenommen, mit der sie begann, bevor sie fliehen mußte. Die Tatsache, daß sie die Kleinarbeit im Kopf machen mußte, behinderte sie und kostete Zeit. Sie brauchte einen Computer, aber eine Leitung konnte sie sich nicht leisten. Es war natürlich frustrierend und ganz sicher ermüdend, aber notwendig. Es war, was Lais tat.
    Eine zögernde Berührung an ihrer Schulter weckte sie auf. Sie erinnerte sich nicht, daß sie eingeschlafen war – vielleicht hatte sich auch nicht geschlafen; die Daten, über denen sie gebrütet hatte, lagen wohlgeordnet in ihrem Hirn, in einer neuen Synthese –, aber sie lag auf der Seite auf der gepolsterten Bank, und ihr Kopf ruhte auf ihren Armen.
    „Es tut mir wirklich leid. Mr. Kiviat sagt, Sie müssen gehen.“
    „Sagen Sie ihm, er soll mir das selber sagen“, sagte sie.
    „Bitte, Miss.“
    Sie schlug die Augen auf. Noch nie zuvor hatte sie eine alte Person gesehen; unwillkürlich starrte sie ihn an, und einen Moment lang brachte sie kein Wort hervor. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und das wenige Haar, das er noch hatte, war drahtig und von gelblichem Weiß; auf seinen Wangen lag der Schatten eines zwei Tage alten Stoppelbartes. Er war verschreckt und völlig hilflos, voller Angst, irgend etwas zu tun, was ihm ganz allein eingefallen war. Seine blassen, tiefliegenden Augen streiften hilfesuchend hin und her. An einer dünnen Kette um seinen Hals hing eine Kennmarke für Kinder. Sie empfand Mitleid und lächelte, ohne Humor, aber voller Verständnis.
    „Schon gut“, sagte sie. „Es ist in Ordnung. Ich gehe.“ Seine Erleichterung war wirklich körperlich.
    Schlaftrunken stand sie auf und ging auf den Ausgang zu. Sie stolperte, und der bösartige Schmerz kroch an ihrer Wirbelsäule hoch, wo die zerfressenen Knochenkanten aneinanderrieben. Sie erstarrte und wußte zugleich, daß das nichts nützen würde. Die schwarzen Fenster und die funkelnden Tropfen aus Eis und Schnee färbten sich dunkelrot. Sie hörte, wie sie fiel, aber sie fühlte nicht, wie sie aufschlug.
    Sie war vielleicht eine Sekunde lang bewußtlos; als sie wieder zu sich kam, verzeichnete sie ruhig: Dies war das erste Mal gewesen, daß der Schmerz sie hatte ohnmächtig werden lassen.
    „Alles in Ordnung, Miss?“
    Der alte Mann kniete neben ihr, die Hände halb ausgestreckt, als wollte er ihr helfen, aber er zitterte vor Angst. Noch vor zwei Monaten hätte Lais sich nicht vorstellen

Weitere Kostenlose Bücher