Feuerflut
Der Kreis war geschlossen.
Seine Hände bewegten sich nervös in seinem Schoß.
„Stimmt etwas nicht?“ Sie achtete darauf, sanft zu sprechen.
Wie um sich zu entschuldigen, sagte er: „Miss, ich muß arbeiten.“
„Du brauchst meine Erlaubnis nicht“, sagte sie, bemüht, jeden Tadel aus ihrer Stimme herauszuhalten.
Er stand auf und blieb unsicher in der Mitte des Zimmers stehen. Er wollte etwas sagen und wußte nicht, wie. „Vielleicht haben Sie später Hunger.“ Er entfloh.
Sie wickelte sich aus der Decke und massierte ihre Knie. Voller Unbehagen wanderte sie im Zimmer umher; sie fühlte sich eingesperrt und fremd.
Eine Station im 3D sendete ständig Nachrichten. Sie selbst erschien im Viertelstundenrhythmus. Die Hoffnung, daß sie nur ihre Spur bis zu dieser Welt verfolgt hatten, löste sich in Luft auf, als sie die Meldung hörte: Die Sendung kam über Satellit; wenn sie ihrer Sache nicht sicher gewesen wären, hätten sie nicht gesagt, daß sie sich in Highport aufhielt, und dabei riskiert, sie in einer anderen Stadt zu verlieren. Immer wieder sagten sie, daß sie verrückt sei; sie formulierten es so höflich wie möglich. Sie konnten ja niemals zugeben, daß die Bösartigkeit nicht in ihrem Hirn, sondern in ihrem Körper lag. Niemand bekam mehr Krebs. Leute, die ihr Geburtsdatum mit dem Himmel der alten Erde verbanden, nannten sich auch nicht mehr Mondkinder, wenn sie im Zeichen des Krebses geboren waren. Alle Normalen hatten man gen-gereinigt, um jegliches Krebspotential aus ihren Chromosomen zu entfernen. Nur wenige von ihnen – und jetzt auch Lais – wußten, daß man den Institutszöglingen dieses Potential wieder eingegeben hatte, als Straf- und Kontrollmöglichkeit.
Sie benutzten auch diese Meldung dazu, die Leute daran zu erinnern, wie wichtig die Zöglinge waren, wieviel Fortschritt sie bewirkt hatten, wieviel Nutzen sie gebracht hatten. Früher hatte Lais nie gewußt, daß diese Art von ständiger Überredung erforderlich war. Vielleicht war sie das auch nicht. Vielleicht glaubten sie es nur, und so fuhren sie damit fort, zu bohren und die alten Narben aufzubrechen, voller Angst, mit den ständigen Bekräftigungen aufzuhören.
Sie schaltete das 3D ab. Die Behausung des alten Mannes enthielt eine kleine Badenische; eine Wanne gab es nicht, nur eine Dusche. Sie zog sich aus und nahm die dunkle Perücke ab. Wenn ein Trockner vorhanden gewesen wäre, hätte sie ihre Kleider gewaschen, aber es gab nur ein paar zerschlissene Handtücher. Sie drehte die Dusche auf, glitt darunter und ließ das Wasser durch ihr leuchtendes, farbloses, auffälliges Haar, über Schultern, Brüste und Rücken laufen. Ihre Rippen und Hüftknochen standen hervor, und ihre Muskeln sahen aus wie auf einem anatomischen Schaubild. Ihre Knie waren blau und rot; sie bekam jetzt sehr leicht Blutergüsse.
Sie ging, bevor der alte Mann zurückkehrte. Es würde ihn nur verlegen machen, wenn sie versuchen wollte, ihm zu danken, und ihn dazu zwingen, nach Worten zu suchen, über die er nicht verfügte. Wenn sie wartete, würde sie vielleicht den Mut verlieren und bleiben; wenn sie wartete, würde sie sich vielleicht schließlich einreden, daß sie nicht wieder wegzulaufen brauchte, um dem Institut zu trotzen. Wenn sie wartete, würden sie vielleicht ihre Spur bis zu ihm verfolgen. Es würde ihnen nichts einbringen, es würde ihnen auch nicht bei der Suche helfen, wenn sie ihn verhörten, aber ihn würde es verwirren und verletzen. Sie empfand ein seltsames Beschützergefühl ihm gegenüber, so wie er es vielleicht ihr gegenüber empfunden hatte; anscheinend reagierten Leute auf Hilflosigkeit in einer Weise, die nichts mit ihren intellektuellen Fähigkeiten zu tun hatte.
Draußen war es wieder dunkel geworden – vielleicht war es auch noch immer dunkel. Lais hatte die Sonne nicht gesehen. Aber der Schneeregen hatte aufgehört, und der Morgen war mitternachtsblau, kalt und klar, und selbst der Widerschein der Stadt am Himmel ließ das Licht der Sterne nicht verblassen. Leute spazierten allein oder in Gruppen über die sanft erleuchtete Allee, oder sie saßen auf den bronzenen und steinernen Flanken der Skulpturen prähistorischer Tiere. Lais hielt sich am Rand und im Schatten. Kein jungerstarrtes Gesicht erbleichte, als es sie sah, niemand schlich sich unauffällig zur nächsten KommuZelle, um die Sicherheitsagenten zu rufen. Nach Kleidung und Sprache zu urteilen, waren viele der Leute Durchreisende, die keinen Grund hatten,
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