Feuerflut
eine andere Konsole zurückgezogen, wo er so weit wie möglich von den anderen entfernt war.
Während sie an der Lösung des großen Rätsels arbeiteten, konzentrierte er sich auf das kleinere. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete er die auf dem Bildschirm angezeigte Weltkarte. Verschiedene kleine Symbole waren auf der Karte verteilt. Jedes Symbol stand für einen kleineren Neutrinoimpuls.
»Das lohnt die Mühe nicht«, hatte Yoshida erklärt, als Riku ihn darauf aufmerksam machte.
Riku sah das anders. Er wusste, dass Yoshidas Umtriebigkeit reine Zeitverschwendung war. Er würde scheitern. Der neue Ausbruch im Westen der USA ließ sich nicht eingrenzen. Er wies zwar ein ähnliches Herzschlagmuster auf wie der isländische Ausbruch, war aber 123,4 mal so stark.
Die Ziffernfolge gefiel ihm.
1, 2, 3, 4.
Das war natürlich reiner Zufall, aber die Schönheit der Zahlenreihe verschaffte ihm eine tiefe Genugtuung. Zahlen hatten etwas Reines, Erlesenes an sich, was außer ihm anscheinend niemand begriff.
Er blickte unverwandt auf den Bildschirm. Die anomalen Ausschläge hatte er kurz nach dem ersten Neutrinoausbruch in Utah registriert. Der Ausbruch hatte nicht nur etwas Instabiles in Island gezündet, sondern auch kleinere Ausbrüche ausgelöst, die um den ganzen Globus herum aufflammten. Er hatte sie detektiert, kurz nachdem Island kritisch geworden war.
Das lohnt die Mühe nicht …
Er verdrängte die lästige Stimme, starrte auf die kleinen Punkte, suchte nach einem Muster. Ein, zwei Punkte lagen im Westen, doch ihre genaue Position war in der tsunamiartigen Neutrinoflut versteckt, die von dort ausging und alle Details überlagerte. Das war der Grund, weshalb Yoshida scheitern würde.
»Riku?«
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er zuckte zusammen, drehte sich um und erblickte Dr. Janice Cooper.
»Entschuldigung«, sagte Janice – sie nannte ihn gern beim Vornamen, obwohl ihm diese Art von Vertraulichkeit unangenehm war. Sie nahm den Arm von seiner Schulter.
Er legte die Stirn in Falten, bemühte sich, die kleinen Muskelbewegungen ihres Gesichts zu deuten und sie mit Emotionen in Verbindung zu bringen. Er konnte nur erkennen, dass sie hungrig war, doch das war möglicherweise falsch. Wegen seines Asperger-Syndroms lag er mit seiner Einschätzung häufiger daneben.
Janice zog einen Stuhl heran und stellte eine Tasse grünen Tee neben seinen Ellbogen. »Ich habe mir gedacht, Sie möchten vielleicht etwas trinken.«
Er nickte, begriff aber nicht, weshalb sie so nahe bei ihm sitzen musste.
»Riku, wir haben versucht herauszubekommen, was den Ausbruch im Westen der USA ausgelöst hat.«
»Die Island-Neutrinos haben den Erdball durchdrungen und ein drittes Vorkommen destabilisiert.«
»Ja, aber warum? Weshalb wurde dieses Vorkommen nicht schon eher instabil, gleich nach dem Ausbruch in Utah? Island wurde kritisch, aber nicht das Vorkommen im Westen. Diese Anomalie bereitet den anderen Physikern Sorge.«
Riku blickte unentwegt auf den Bildschirm. »Aktivierungsenergie«, sagte er und wandte den Kopf, als wäre das ganz offensichtlich. Und es war offensichtlich.
Sie schüttelte den Kopf. War sie anderer Meinung, oder hatte sie ihn nicht verstanden?
Er seufzte. »Chemische Reaktionen sind genau wie atomare Reaktionen auf Energiezufuhr angewiesen, um in Gang zu kommen.«
»Die Aktivierungsenergie.«
Er runzelte die Stirn. Hatte er das nicht gerade gesagt? Dennoch fuhr er fort: »Der Energiebetrag ist häufig abhängig vom Volumen oder der Masse des Substrats. Das Vorkommen auf der isländischen Insel muss kleiner gewesen sein. Deshalb reichte die Menge der in Utah freigesetzten Neutrinos aus, um es zu destabilisieren.«
Janice nickte. »Aber der Neutrinoausbruch in Island war viel stärker als der erste. Die Neutrinomenge hat ausgereicht, um das Vorkommen im Westen zu destabilisieren und die dickere Zündschnur zu entzünden. Wenn Sie recht haben, würde das bedeuten, dass das neue Vorkommen wesentlich größer ist als die anderen.«
Hatte er das nicht ebenfalls schon gesagt?
»Und zwar um den Faktor 123,4.« Die Zahlen auszusprechen übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. »Das heißt, unter der Voraussetzung, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Neutrinoausstoß und Masse gibt.«
Sie wurde noch ein wenig blasser.
Verlegen wandte er sich wieder dem Bildschirm zu, seinem eigenen Rätsel, den schwachen Neutrinosignalen.
»Was halten Sie von diesen Emissionen?«, fragte Janice nach
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