Feuerfrau
und Geräuschen um sich die Welt wahrzunehmen, war es die brüchige Stimme dieses alten Mannes, die dem Fohlen das Gefühl vermittelte: Du bist ein kleines Stück von mir.
Später aßen wir im Kantinenzelt, Ellbogen an Ellbogen mit den Artisten, Stallburschen und Arbeitern. Das Essen war gut und ausgiebig; ein Samowar stand auf dem Tisch, die Asiaten tranken Tee in großen Mengen.
Stimmengewirr und lautes Gelächter erfüllten das Zelt, die Luft war heiß und stickig. Coralie saß am anderen Tischende, stocherte in ihrem Teller herum, rauchte ihre kleinen Zigaretten, lachte zu laut und fiebrig. Artisten sind nach der Vorstellung überdreht, können nicht abschalten. Einige schlugen eine Disco-Tour vor. Jean sprach von einer Rave-Party, in der Nähe der Maison de la Radio. Lola begann zu schimpfen, mit Verzweiflung in der Stimme.
»Ach, Kinder, ach, Kinder! Da fickt ihr miteinander, schluckt Ecstasy und trinkt, was euch in die Finger kommt, und morgens um fünf kotzt ihr euch die Seele aus dem Leib. Und was, wenn ihr euch infiziert?«
Jean ließ einen arglosen Seufzer hören.
»Aber Mutter, fang doch nicht wieder damit an! Hast du denn kein Vertrauen zu deinem Sohn?«
»Nein, das habe ich nicht.«
Amadeo sah ihn scharf an.
»Wenn du was anstellst, ziehe ich dir das Fell über die Ohren. Und Kautionen bezahle ich nicht, verstanden?«
Coralie schlenderte vorbei, mit schaukelnden Hüften, und schloß sich der Gruppe an. Raschid-Khans Söhne saßen stumm und sehnsuchtsvoll da, die ungenaue Vorstellung anrüchiger Schattenspiele vor Augen. Als strenggläubiger Moslem nahm sie der Vater in die Zange: kein Alkohol, kein Tanz. Die Stimmen entfernten sich, Wagentüren schlugen zu. Vor dem Zelt war das Quietschen der Reifen zu hören, das Aufheulen startender Motoren. Lola begann, still vor sich hin zu weinen.
»Ich halte es nicht mehr aus, ich habe keine Kraft mehr.«
Amadeo rauchte gelassen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Sei ruhig, Lola. Der Mensch lebt sein Leben auf verschiedene Art. Zuerst wie ein schnüffelnder junger Hund, dann wie ein Dachs, der in Erdlöchern wühlt, und schließlich wie ein Habicht, der über Wald und Gestrüpp sein Revier bewacht. Laß ihm Zeit, Lola. Er wird es lernen.«
Als wir zum Wohnwagen gingen, sagte ich:
»Ich habe Wassilio nicht gesehen.«
»Brahim hat ihm Kaffee gebracht. In seinem Alter wird man bedürfnislos. Er hat sich zu Salima und dem Kleinen gelegt und schläft.
Das tut er immer, wenn ein Fohlen geboren wird.«
»Warum, Amadeo?«
»Um das Fohlen mit dem Geruch und der Nähe der Menschen vertraut zu machen. Er wird einen Traum haben und bei Tageslicht dem Fohlen einen Namen geben.«
»Wie schön er gesungen hat!«
»Die menschliche Stimme kann Liebe erwecken, Haß erzeugen, uns froh oder glücklich machen. Das gilt für Menschen und Tiere. Unser Leben entspringt demselben Fluß. Dadurch, daß Wassilio für das Fohlen singt, kehrt er zu den Quellen zurück und erfüllt seine menschliche Bestimmung.«
Ich lächelte.
»Außer Wassilio kenne ich keinen Menschen, der über diese Dinge so gut Bescheid weiß wie du.«
»Nein. Himmel und Erde sind ein großes Rätsel. Ich weiß, wo hinten und vorn ist. Aber es gibt tausend und abertausend Dinge, die ich erst dann verstehen werde, wenn ich auf der ›anderen Seite der Landschaft‹ stehe.«
Er gebrauchte die Umschreibung, die in der Sprache der Romanos den Tod bedeutete. Und es gefiel mir nicht zu hören, wie seine Stimme plötzlich schwermütig wurde. Etwas Düsteres drang aus seinem Denken heraus. Aber das war nur eines von mehreren Gefühlen, und meine Antwort kam schnell und leichthin.
»Bis dahin weißt du nicht alles, finde dich damit ab.«
»Zum Teufel, daß ich weiß, was du jetzt mit mir vorhast.«
Er nahm mich beim Handgelenk, zog mich in das schrankartige Schlafgemach. Topsy raschelte in ihrem Korb, und die kleine Lampe an der Decke brannte. Wenn der Generator gut lief, war das Licht ziemlich hell.
Mir fiel sofort auf, daß Coralies Sachen verschwunden waren.
»Sie schläft bei Lola«, erwiderte er gleichmütig, auf meinen fragenden Blick hin. »Solange du da bist, ist mir der Geruch einer anderen Frau zuwider.«
Wir hielten uns umschlungen, Stirn gegen Stirn. Er preßte sein Gesicht ganz dicht an meines, zog langsam und tief meinen Atem in sich ein. Meine Hände faßten nach seinen Händen, strichen seine Unterarme entlang, streichelten die Ellbogen, glitten über Schultern und Rücken. Das
Weitere Kostenlose Bücher