Feuerkind
der nicht das geringste Anzeichen irgendeiner Fähigkeit der geistigen Beherrschung anderer zu erkennen gegeben hatte, falls er diese Fähigkeiten überhaupt noch besaß. Man bezweifelte immer stärker, daß das der Fall war.
Das Mädchen faszinierte Rainbird. Während seines ersten Jahres bei der Firma hatte er an einer Reihe von Lehrgängen teilgenommen, die in keinem College-Lehrplan zu finden waren – Anzapfen von Leitungen, Autodiebstahl, unauffällige Ermittlungen, ein Dutzend weitere. Der einzige Lehrgang, den Rainbird mit wirklichem Interesse besucht hatte, war der im Geldschrankknacken, der von einem alternden Einbrecher namens G. M. Rammaden veranstaltet wurde. Rammaden war von einer gewissen Institution in Atlanta, dem Zuchthaus, eigens zu dem Zweck beurlaubt worden, neuen Agenten der Firma diese Kunst beizubringen. Er galt als der beste seiner Zunft, und Rainbird bezweifelte das nicht, obwohl er glaubte, daß er Rammaden inzwischen fast ebenbürtig war.
Rammaden, der vor drei Jahren gestorben war (Rainbird hatte zu seiner Beerdigung Blumen geschickt – was für eine Komödie konnte das Leben manchmal sein!), hatte sie über Skidmore-Schlösser informiert, über Tresore mit quadratischen Türen, über Sekundärvorrichtungen, mit denen die Verriegelung eines Safes unverrückbar festgehalten wird, wenn man die Kombinationsscheibe mit Hammer und Meißel abschlägt; er hatte über Zylindertresore und Negerköpfe und Schneidschlüssel berichtet; die vielen Verwendungsmöglichkeiten von Graphit; er hatte ihnen gezeigt, wie man mit einem Topfreiniger einen Schlüsselabdruck nimmt und in der Badewanne Nitroglyzerin herstellt. Er hatte auch erklärt, wie man einen Tresor von hinten Schicht um Schicht aufschält.
Rainbird hatte auf Rammaden immer mit kalter und zynischer Faszination reagiert. Rammaden hatte einmal gesagt, daß Tresore wie Frauen seien. Mit dem richtigen Werkzeug und ein wenig Zeit konnte man sie alle knacken. Einige seien schwer zu knacken und einige leicht, aber widerstehen könne auf Dauer keiner.
Das Mädchen war schwer zu knacken.
Zuerst hatten sie Charlie intravenös ernähren müssen, um sie daran zu hindern, sich zu Tode zu hungern. Nach einiger Zeit begriff sie, daß die Verweigerung der Nahrungsaufnahme ihr nur Blutergüsse an den Innenseiten der Ellbogen eintrug, und sie fing an zu essen, nicht mit Begeisterung, sondern ganz einfach, weil es weniger schmerzhaft war, den Mund zu benutzen.
Sie las einige der Bücher, die man ihr gegeben hatte -blätterte sie wenigstens durch –, und manchmal schaltete sie das Farbfernsehgerät in ihrem Zimmer ein, um es nach wenigen Minuten wieder auszuschalten. Im Juni hatte sie eine Fernsehserie mit dem Titel Schwarze Schönheit durchgestanden, und ein oder zweimal hatte sie sich Disney’s wunderbare Welt angesehen. Das war alles. In den wöchentlichen Berichten über sie erschien immer öfter die Bezeichnung »Sporadische Aphasie«.
Rainbird schlug den Begriff in einem medizinischen Wörterbuch nach und verstand ihn sofort – aufgrund seiner eigenen Erfahrungen als Indianer und Krieger verstand er ihn vielleicht besser als die Ärzte selbst. Manchmal fand das Mädchen keine Worte. Ohne sonderliche Erregung stand sie dann einfach da und bewegte stumm die Lippen. Und manchmal gebrauchte sie ein Wort, das nicht in den Zusammenhang paßte, anscheinend, ohne es selbst zu merken. »Ich mag dieses Kleid nicht, ich möchte lieber das in Heu.« Manchmal korrigierte sie sich dann zerstreut – »ich meine das in Grün« -, aber meistens fiel es ihr nicht auf.
Laut Wörterbuch bedeutete Aphasie Vergeßlichkeit infolge einer Fehlfunktion des Gehirns. Die Ärzte hatten sofort angefangen, mit Medikamenten an ihr herumzupfuschen. Das Orasin wurde durch Valium ersetzt, ohne daß sich ihr Zustand merklich besserte. Dann probierte man Orasin zusammen mit Valium, aber eine unvorhergesehene Wechselwirkung zwischen beiden führte dazu, daß sie ständig und monoton weinte, bis die Wirkung der Drogen abgeklungen war. Dann probierte man eine ganz neue Droge, ein mit einem Beruhigungsmittel kombiniertes Halluzinogenikum, das zuerst zu helfen schien. Aber dann hatte sie angefangen zu stottern, und ein leichter Ausschlag hatte sich auf ihrer Haut gebildet. Man setzte sie wieder auf Orasin, aber sie wurde sorgfältig überacht für den Fall, daß sich die Aphasie verschlimmern sollte. Eine Menge war über ihren schwachen psychischen Zustand geschrieben worden und über
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