Feuerkind
drückte ab. Es gab keine Explosion, nur ein hohles Plopp!, und aus dem Schloß der Waffe stieg ein wenig Rauch auf.
5
Sie hatten die untere Stufe erreicht, als Charlie plötzlich stehenblieb und ein ersticktes gurgelndes Geräusch von sich gab. Andy ließ sofort die Koffer fallen. Er hatte nichts gehört, aber auf schreckliche Weise stimmte etwas nicht. Etwas an Charlie hatte sich verändert.
Charlie? Charlie?
Er starrte sie an. Sie stand unbewegt wie eine Statue, unbeschreiblich schön gegen die helle Schneefläche. Unglaublich klein. Und plötzlich wußte er, worin die Veränderung bestand. Sie war so grundlegend und so furchtbar, daß er es zuerst gar nicht hatte fassen können.
Etwas, das wie eine lange Nadel aussah, steckte unterhalb des Kehlkopfes in Charlies Hals. Ihre behandschuhte Hand griff nach dem Gegenstand, fand ihn und bog ihn zu einem grotesken Winkel nach oben. Ein wenig Blut tröpfelte aus der Wunde und lief an ihrem Hals herab. Eine Blume aus Blut, klein und zart, benetzte ihren Hemdkragen und berührte den Pelzbesatz ihrer Jacke.
»Charlie!« schrie er. Er sprang vor und ergriff sie am Arm, als sie die Augen verdrehte und zur Seite fiel. Er legte sie auf die Veranda und rief immer wieder ihren Namen. Der Pfeil in ihrer Kehle glänzte hell in der Sonne. Ihr Körper fühlte sich so schlaff an wie etwas Totes. Er hielt sie im Arm und schaute zum sonnenbeschienenen Wald hinüber, der so leer schien – und in dem keine Vögel sangen.
»Wer hat das getan?« brüllte er. »Wer hat das getan? Kommt heraus, daß ich euch sehen kann!«
Don Jules trat hinter der Ecke der Veranda hervor. Er trug Tennisschuhe von Adidas. In einer Hand hielt er die Zweiundzwanziger.
»Wer hat meine Tochter erschossen?« schrie Andy. Der laute Schrei ließ etwas in seiner Kehle schmerzhaft vibrieren. Er preßte Charlie an sich, und sie lag so schrecklich schlaff in ihrem warmen blauen Parka. Seine Finger packten den Pfeil und zogen ihn aus der Wunde.
Sie muß in die Hütte, dachte er. Ich muß sie in die Hütte schaffen.
Jules trat hinter ihn und schoß ihm in den Nacken, fast so wie der Schauspieler Booth einst einen Präsidenten erschossen hatte. Andy fuhr ruckartig hoch und drückte Charlie nur noch fester an sich. Dann brach er über ihr zusammen. Jules sah ihn sich genau an und winkte dann die Männer aus dem Wald herbei. »Kleinigkeit«, sagte er zu sich selbst, als Rainbird durch den klebrigen, schmelzenden Schnee zur Hütte watete. »Kleinigkeit. Wozu die ganze Aufregung?«
Stromausfall
1
Die Kette der Ereignisse, die in solcher Zerstörung und dem Verlust so vieler Leben enden sollte, begann mit einem Sommergewitter und dem Ausfall zweier Generatoren.
Das Gewitter kam am 19. August, fast fünf Monate, nachdem Andy und Charlie bei Großvaters Hütte in Vermont gefasst wurden. Das Wetter war zehn Tage lang schwül und ruhig gewesen. An jenem Augusttag begannen sich kurz nach Mittag die Gewitterwolken zusammenzuballen, aber niemand, der auf dem Gelände der beiden idyllischen, durch einen sanft gewellten Rasen und gepflegte Blumenbeete getrennten Landsitze arbeitete, glaubte, daß die Wolken die Wahrheit sagten – die Gartenarbeiter auf ihren Rasenmähern nicht, die Frau nicht, die für die Computer-Unterabteilungen A-E (und für die Kaffeeköchin im Computerraum) verantwortlich war und die während ihrer Mittagspause eins der Pferde genommen hatte und jetzt den gepflegten Reitweg entlanggaloppierte, und ganz gewiß nicht Cap, der in seinem klimatisierten Büro ein Sandwich aß und ohne Rücksicht auf die Feuchtigkeit und die Hitze, die draußen herrschten, am Budget für das kommende Jahr arbeitete.
Vielleicht die einzige Person auf dem Gelände der Firma in Longmont, die glaubte, daß es wirklich regnen würde, war Rainbird, der Mann, der nach dem Regen benannt worden war. Der lange Indianer fuhr um zwölf Uhr dreißig vor, um dann gegen ein Uhr den Kontrollcomputer zu passieren. Seine Knochen und das zerfaserte Loch, wo früher das linke Auge gewesen war, schmerzten wie immer, wenn Regen bevorstand.
Er fuhr einen sehr alten und völlig verrosteten Thunderbird mit einem Parkaufkleber der Kategorie D an der Windschutzscheibe. Er trug weiße Wärterkleidung. Bevor er aus dem Wagen stieg, legte er eine bestickte Augenklappe an. Er trug sie nur während der Dienstzeit, und zwar mit Rücksicht auf das Mädchen, aber auch nur dann. Die Augenklappe störte ihn. Sie ließ ihn an sein verlorenes Auge
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