Feuerkind
Erfolg ausprobiert hatte. Aus Angst, sie könnte Krebs haben, hatte er sie gebeten, einen Arzt aufzusuchen. Er hatte es für unmöglich gehalten, in nur sechs Wochen auf natürliche Weise über siebzig Pfund an Gewicht zu verlieren. Sie zeigte ihm ihre vom Nähen roten und schwieligen Finger, denn sie hatte mit Nadel und Faden all ihre Kleider enger machen müssen. Und dann schlang sie ihm die Arme um den Hals (wobei sie ihm fast das Genick brach) und weinte sich an seiner Schulter aus.
Genau wie einige seiner Kollegen besuchten ihn manchmal seine erfolgreicheren Studenten, einige, um sich zu bedanken, andere, um ihm gegenüber ihren Erfolg zu demonstrieren -nach dem Muster: Sehen Sie, der Student ist mehr geworden als der Lehrer … etwas, das kaum so ungewöhnlich war, wie sie zu glauben schienen.
Aber Mrs. Gurney hatte zur ersten Kategorie gehört. Nur etwa zehn Tage bevor Andy anfing, sich in Port City bespitzelt zu fühlen, war sie in sein Büro gekommen, um sich zu bedanken. Noch vor Ende jenes Monats waren sie nach New York City gegangen.
Mrs. Gurney war immer noch eine stattliche Frau, aber wenn man sie von früher kannte, sah man den enormen Unterschied – wie bei den Anzeigen mit den Vorher-Nachher-Fotos. Als sie jenes letzte Mal hereinschaute, wog sie noch hundertachtzig Pfund. Aber es ging natürlich gar nicht um ihr genaues Gewicht. Wichtig war, daß sie auch weiterhin sechs Pfund plus minus dreißig Prozent wöchentlich abnehmen würde. In der Folgezeit würde sie mit verringerter Geschwindigkeit abnehmen um dann schließlich ihr ursprüngliches Gewicht zuerreichen. Dabei würde es keine explosive Gewichtsminderung geben, und auch keine Nachwirkungen wie Abscheu vor dem Essen, was gelegentlich zu nervöser Anorexie führt. Andy wollte ein wenig Geld verdienen, aber niemanden dabei um bringen.
»Für das, was Sie getan haben, sollte man Sie zum nationalen Wundertäter erklären«, hatte Mrs. Gurney gesagt, nachdem sie berichtet hatte, daß sie sich mit ihren Kindern versöhnt habe, und daß das Verhältnis zu ihrem Mann jetzt besser sei. Andy hatte sich lächelnd bei ihr bedankt, aber jetzt, da er auf seinem Bett lag und allmählich müde wurde, überlegte er, daß genau dies ihm und Charlie passiert war: Man wollte aus ihnen nationale Wundertäter machen.
Dennoch, es war keine schlechte Fähigkeit. Nicht, wenn man damit einer Mrs. Gurney helfen konnte.
Er lächelte ein wenig. Und lächelnd schlief er ein.
10
An die Einzelheiten des Traums konnte er sich später nicht mehr erinnern. Er hatte etwas gesucht. Er hatte sich in einem labyrinthartigen, von trüben roten Lampen erhellten Gewirr von Korridoren befunden. Er öffnete Türen zu leeren Zimmern und schloß sie wieder. In einigen Räumen lag eine Menge zusammengeknülltes Papier, in einem eine umgestürzte Tischlampe und ein von der Wand gefallenes Bild im Stil von Wyeth. Andy hatte das Gefühl, sich in einer Anlage zu befinden, die geschlossen und in aller Eile geräumt worden war.
Und dennoch hatte er zuletzt gefunden, was er suchte, war … was? Eine Kiste? Eine Truhe? Was immer es war, es hatte ein entsetzliches Gewicht, und auf den Gegenstand war mit einer Schablone ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen gemalt, wie man ihn auf einer Dose Rattengift findet, die man auf einem hohen Regal im Keller aufbewahrt. Trotz seine Gewichts (er mußte mindestens so viel wiegen wie Mrs. Gulney) konnte er den Gegenstand hochheben. Er spürte ab Muskeln und Sehnen straff und hart werden, aber er empfand keinen Schmerz.
Natürlich nicht, sagte er sich. Ich empfinde keinen Schmerz, weil es ein Traum ist. Später werde ich dafür büßen. Der Schmerz wird sich später einstellen.
Er trug die Kiste aus dem Raum, in dem er sie gefunden hatte. Es gab einen Ort, an den er sie schaffen mußte, aber er wußte nicht, wo er lag und um was es sich dabei handelte -
Ich werde es wissen, wenn ich ihn sehe, flüsterte sein Verstand.
Also trug er die Kiste über endlose Korridore auf und ab, und das Gewicht zerrte schmerzlos an seinen Muskeln, und sein Nacken wurde steif; und obwohl ihm die Muskeln nicht weh taten, zeigten sich Anzeichen von Kopfschmerzen.
Das Gehirn ist ein Muskel, dozierte sein Verstand, und diese Aussage wurde zu einem Kinderlied, zu einem fröhlichen Vers, wie ihn kleine Mädchen beim Hüpfen singen: Das Gehirn ist ein Muskel, der die Welt bewegen kann. Das Gehirn ist ein Muskel, der die Welt …
Jetzt sahen die Türen alle wie U-Bahn-Türen
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