Feuerkind
Kind, und ich weiß, daß es dir nicht anders geht, aber wir müssen die Sache realistisch betrachten, Norma. Wir könnten durch sie umkommen.«
Charlie spürte, wie sie vor Scham errötete … und vor Entsetzen. Sie dachte dabei nicht an sich sondern an Irv und Norma. Was hatte sie nur über dieses Haus gebracht?
»Und es geht nicht nur um sie. Du weißt doch, was dieser Tarkington uns sagte. Du erinnerst dich an die Akten, die er uns zeigte. Es geht auch um deinen Bruder und meinen Neffen Fred und Shelley und –«
»– und um all die Verwandten in Polen«, ergänzte Norma. »Nun, damit hat er vielleicht nur geblufft. Ich bitte Gott, daß es so war. Ich kann kaum glauben, daß jemand so gemein sein könnte.«
»Sie sind schon ziemlich gemein gewesen«, sagte Norma böse.
»Wie dem auch sei«, meinte Irv. »Ich weiß, daß die Schweine nicht lockerlassen werden. Und dann geht es hier wieder los. Ich sage nur, Norma, ich will nicht, daß die Scheiße hier wieder losgeht. Wenn wir etwas unternehmen, dann muß es etwas Vernünftiges sein. Ich will nicht zu einer kleinen Provinzzeitung gehen, damit sie es erfahren und unterdrücken. Das könnten sie. Glaub mir, das könnten sie.«
»Aber was bleibt uns dann übrig?«
»Das«, sagte Irv langsam, »überlege ich mir ja gerade die ganze Zeit. Eine Zeitung oder eine Illustrierte, aber eine, an die sie nicht denken. Es muß ein angesehenes Blatt und in ganz Amerika verbreitet sein. Aber das Wichtigste ist, es darf nicht von der Regierung beeinflußt sein oder die Meinung der Regierung vertreten.«
»Du meinst, die Meinung der Firma.«
»Ja, genau das meine ich.« Es gab ein leises Geräusch, als Irv seinen Tee schlürfte. Charlie lag im Bett, horchte und wartete.
… es geht schließlich auch um unser Leben … mich hat man schon einmal angeschossen … ich liebe sie wie mein eigenes Kind, und ich weiß, daß es dir nicht anders geht, aber wir müssen die Sache realistisch betrachten, Norma … wir könnten durch sie umkommen.
(nein, bitte nicht,)
(wir könnten durch sie umkommen wie ihre Mutter durch sie umgekommen ist)
(nein, bitte, bitte, sagt das nicht)
(wie ihr Daddy durch sie umgekommen ist)
(bitte, hört auf)
Sie hatte das Gesicht zur Seite gedreht, und Tränen liefen ihr jetzt in die Ohren und auf das Kopfkissen.
»Gut, wir werden noch ein wenig darüber nachdenken«, sagte Norma zuletzt. »Es gibt eine Antwort darauf, Irv. Irgendwo. «
»Ja Das hoffe ich.«
»Und inzwischen«, sagte sie, »können wir nur hoffen, daß niemand weiß, daß sie hier ist.« Ihre Stimme wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Irv, vielleicht sollten wir einen Anwalt nehmen –«
»Morgen«, sagte er. »Ich bin müde. Und noch weiß keiner, daß sie hier ist.«
Aber jemand wußte es. Und die Neuigkeit machte schon die Runde.
10
Bis er Ende Sechzig war, hatte Dr. Hofferitz, ein eingefleischter Junggeselle, mit seiner langjährigen Haushälterin Shirley McKenzie geschlafen. Die sexuelle Seite der Angelegenheit war dann allmählich eingeschlafen; das letzte Mal war, soweit sich Hofferitz erinnern konnte, vor vierzehn Jahren gewesen, und auch das kam damals schon fast einer Anomalie gleich. Aber die beiden waren eng befreundet geblieben; nachdem der Sex ausgeklammert war, hatte sich die Freundschaft sogar noch vertieft und hatte etwas von der gespannten Gereiztheit verloren, die so oft die sexuellen Beziehungen bestimmt. Ihre Freundschaft war jetzt von jener platonischen Art, die nur bei sehr jungen und sehr alten Menschen beiderlei Geschlechts Bestand zu haben scheint.
Dennoch behielt er sein Wissen um den »Logiergast« auf der Mandersfarm über drei Monate für sich. Dann aber hatten er und Shirley an einem Februarabend (Shirley war im Januar gerade fünfundsiebzig geworden) vor dem Fernsehgerät gesessen, und nach drei Gläsern Wein hatte er ihr die ganze Geschichte erzählt, nicht ohne sie zu strengstem Stillschweigen zu verpflichten.
Geheimnisse, das hätte Cap Dr. Hofferitz sagen können, sind sowenig stabil wie Uran-235, und diese geringe Stabilität verringert sich dann noch proportional zur Anzahl der Personen, die das Geheimnis teilen. Shirley McKenzie behielt das Geheimnis fast einen Monat für sich, bevor sie es Hortense Barcley, ihrer besten Freundin, erzählte. Hortense schwieg zehn Tage, bevor sie es an ihre beste Freundin weitergab, eine gewisse Christine Traegger. Christine erzählte es ihrem Mann und ihren besten Freundinnen (allen dreien) auf der
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