Feuerkind
»Du hast es begriffen. Und was ich dir früher gesagt habe, stimmt immer noch, Charlie: aber wenn man in einer bösen Schwierigkeit steckt, muß man manchmal Dinge tun, die man unter normalen Umständen nie tun würde.«
Charlie lächelte nicht mehr. Ernst und aufmerksam sah sie ihren Vater an. »Zum Beispiel Geld aus den Münzapparaten holen?«
»Ja«, sagte er.
»Und das war nicht schlimm?«
»Nein. Wenn man unsere Lage bedenkt, war es nicht schlimm.«
»Denn wenn man in einer bösen Schwierigkeit steckt, muß man alles tun, um wieder herauszukommen.«
»Nicht alles. Es gibt Ausnahmen.«
»Welche Ausnahmen?«
Er fuhr ihr mit der Hand durch das Haar. »Lassen wir das. Mach ein freundliches Gesicht.«
Aber sie blieb ernst. »Ich wollte dem Mann die Schuhe doch gar nicht in Brand stecken. Ich habe es nicht absichtlich getan.«
»Nein, natürlich nicht.«
Endlich lächelte sie. Ihr Lächeln war so strahlend, wie er es von Vicky kannte. »Was macht dein Kopf heute morgen, Daddy?«
»Es ist schon viel besser, danke.«
»Gott sei Dank.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Dein Auge sieht so komisch aus.«
»Welches?«
Sie deutete auf sein linkes. »Das da.«
»So?« Er ging ins Bad und wischte über den beschlagenen Spiegel.
Er sah sich lange sein Auge an, und seine gute Stimmung war weg. Sein rechtes Auge sah aus wie immer, graugrün – wie die Farbe des Meeres unter verhangenem Himmel an einem Frühlingstag. Sein linkes Auge war auch graugrün, aber das Weiße war blutunterlaufen, und die Pupille sah kleiner aus als die rechte. Und das Lid fiel eigenartig herab, etwas, das er an sich noch nie beobachtet hatte.
Plötzlich drang Vickys Stimme in seine Gedanken. Er hörte sie so deutlich, als ob sie neben ihm stünde. Diese Kopfschmerzen machen mir Angst, Andy. Wenn du diese Fähigkeit, andere psychisch zu beeinflussen, oder wie immer du es nennst, anwendest, fügst du nicht nur anderen, sondern auch dir selbst etwas zu.
Nach diesem Gedanken hatte er die Vorstellung, als würde ein Ballon aufgeblasen … er wurde immer größer … größer … und größer, um endlich mit einem lauten Knall zu zerplatzen.
Sorgfältig betrachtete er seine linke Gesichtshälfte, betastete sie überall mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand. Er sah aus wie ein Mann in einem Werbe-Spot, der seine vollendete Rasur bewunderte. Er fand drei Stellen – eine unter dem linken
Auge, eine am linken Jochbein und eine dicht unter der linken Schläfe – an denen er nicht das geringste Gefühl hatte. Angst legte sich auf ihn, so wie sich in der Abenddämmerung der Nebel auf das Land senkt. Er hatte weniger Angst um sich selbst als um Charlie, denn was würde mit ihr geschehen, wenn er sie allein zurücklassen müßte?
Als ob er sie gerufen hätte, sah er sie jetzt im Spiegel.
»Daddy?« Es klang ein wenig ängstlich. »Ist alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, sagte er. Seine Stimme klang normal Kein Zittern; aber auch keine übermäßige Zuversicht, kein falscher Ton. »Mir fällt nur ein, daß ich mich dringend rasieren müßte.«
Sie hielt sich den Mund zu und kicherte. »Kratzig wie eine Topfbürste. liiih!«
Er rannte ihr ins Zimmer nach und rieb seine kratzige Wange an ihrer glatten. Charlie kicherte und strampelte.
3
In dem Augenblick, als Andy seine Tochter mit seinem Stoppe! -bart kitzelte, stiegen Orville Jamieson, alias OJ, alias The Juice und ein weiterer Agent der Firma vor dem einzigen Speiselokal in Hastings Glen aus einem hellblauen Chevrolet.
OJ blieb einen Augenblick stehen und schaute die Hauptstraße entlang. Er sah den Eisenwarenladen, den Lebensmitte] laden, die beiden Tankstellen, die Drogerie und das aus Holz gebaute öffentliche Gebäude, an dem eine Tafel angebracht war, die auf irgendein historisches Ereignis hinwies, für das sich niemand im mindesten interessierte. Die Hauptstraße war gleichzeitig die Route 40, und die McGees waren keine vier Meilen von der Stelle entfernt, an der OJ und Bruce Cook gerade standen.
»Guck dir dieses Kaff an«, sagte OJ angewidert. »Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen. Die Stadt heißt Lowville. Hast du schon jemals was von Lowville im Staat New York gehört?«
Bruce Cook schüttelte den Kopf.
»Es liegt auch in der Nähe von Utica. Dort wird das Utica-Club-Bier
gebraut. Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich wie an dem Tag, als ich von Lowville abhauen konnte.« OJ griff unter seine Jacke und rückte seinen Revolver zurecht.
»Da sind ja Tom
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