Feuerkind
das Haus verlassen hatte -ungefähr siebzehn Dollar. Er hatte seine Kreditkarten, aber das Zimmer hatte er mit den beiden Zwanzigern bezahlt, die er immer hinten in der Brieftasche hatte (für den Notfall, hatte er manchmal im Scherz zu Vicky gesagt, aber als grausam wahr hatte sich das herausgestellt), anstatt eine der Karten zu benutzen. Hätte er eine der Karten benutzt, hätte er genausogut ein Schild aufstellen können: HIER GEHT ES ZUM FLÜCHTIGEN COLLEGELEHRER UND SEINER TOCHTER. Von den siebzehn Dollar konnten sie Essen kaufen und den Tank auffüllen lassen. Dann waren sie völlig abgebrannt.
»Ich weiß nicht, Charlie«, sagte er. »Nur weg.«
»Wann holen wir Mami?«
Andy sah sie an, und seine Kopfschmerzen wurden wieder schlimmer. Er dachte an die Blutstropfen auf dem Fußboden und am Fenster der Waschmaschine. Er dachte an den Geruch nach Möbelpolitur.
»Charlie –« sagte er, und mehr konnte er nicht sagen. Es war auch nicht mehr nötig.
Sie sah ihn an, und ihre Augen wurden langsam größer. Sie hob die Hand zum Mund. Ihre Lippen zitterten.
»O nein, Daddy … bitte, sag, daß es nicht wahr ist.«
»Charlie –«
Sie kreischte auf. »Oh, bitte, sag, daß es nicht wahr ist!«
»Charlie, diese Männer, die –«
»Bitte, sag, daß sie lebt, sag, daß sie lebt, sag, daß sie lebt.«
Das Zimmer … das Zimmer war so heiß, die Klimaanlage war abgeschaltet, das war alles, aber es war so heiß, sein Kopf schmerzte, der Schweiß lief ihm über das Gesicht, nicht kalter Schweiß, diesmal war er heiß wie Öl, heiß –
»Nein«, sagte Charlie. »Nein, nein, nein, nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Zöpfe flogen, und es war absurd: er mußte an den Tag denken, als er und Vicky sie zum ersten Mal in den Vergnügungspark mitgenommen hatten. Das Karussell …
Es lag nicht an der Klimaanlage.
»Charlie!« brüllte er. »Charlie, die Badewanne! Das Wasser!«
Sie schrie. Sie drehte den Kopf zur geöffneten Badezimmertür um, und plötzlich flammte ein blauer Blitz auf, als ob eine Glühbirne ausbrannte. Das Endstück der Dusche löste sich aus der Aufhängung und fiel scheppernd in die Wanne, geschwärzt und verbogen. Mehrere der blauen Wandfliesen gingen in Trümmer.
Er konnte sie gerade noch auffangen, als sie schluchzend zu Boden sank.
»Daddy, es tut mir leid, es tut mir so leid –«
»Es ist ja schon gut«, sagte er mit zitternder Stimme und umarmte sie.
Vom Bad her trieb Rauch aus der zusammengeschmolzenen Badewanne herüber. Alle Keramikflächen zeigten Sprünge. Es sah aus, als sei das ganze Badezimmer in einem leistungsfähigen aber defekten Brennofen gewesen. Die Handtücher schwelten.
»Es ist ja schon gut«, wiederholte er und hielt sie im Arm.
»Charlie, es wird alles wieder gut, irgendwann wird es wieder gut, das verspreche ich dir.«
»Ich will Mami«, schluchzte sie.
Er nickte. Er wollte sie auch. Er drückte Charlie fest an sich und roch Ozon und Keramik und geröstete Motelhandtücher. Fast hätte sie sich selbst und ihn gleich mit verbrannt.
»Es wird wieder gut«, versicherte er ihr und wiegte sie in den Armen, wenn er es auch selbst nicht glaubte, aber es war die Litanei, es war der Psalter, die Stimme des Erwachsenen, die in den dunklen Brunnen der Jahre hinunterruft, in das Elendsloch einer gequälten Kindheit; es war das, was man eben sagte, wenn etwas schiefging; es war das Licht in der Nacht, das zwar das Ungeheuer nicht bannen, aber eine Weile in Schach halten konnte; es war die Stimme ohne Kraft, die dennoch sprechen mußte.
»Es wird wieder gut«, tröstete er sie, obwohl er es selbst nicht glaubte, obwohl er, wie jeder Erwachsene, wußte, daß nichts auf der Welt jemals wirklich gut ist. »Es wird wieder gut.«
Er weinte. Er konnte nicht anders. Seine Tränen strömten nur so, und er drückte Charlie ganz fest an die Brust.
»Charlie, ich schwöre es dir, irgendwie wird alles wieder gut.«
5
Das einzige, was sie ihm nicht hatten anhängen können – wie gern sie es auch getan hätten –, war der Mord an Vicky. Statt dessen hatten sie es vorgezogen, was im Wäscheraum geschehen war, einfach zu löschen. Manchmal – nicht oft – überlegte Andy, was die Nachbarn in Lakeland wohl gedacht haben mochten. Geldeintreiber? Eheprobleme? Vielleicht Drogenprobleme oder ein Fall von Kindesmißhandlung? Sie hatten niemanden am Conifer Place gut genug gekannt, als daß die Angelegenheit mehr hergegeben hätte als Stoff für eitles Geschwätz am
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