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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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Wahrscheinlich musste Dóra eine neue Mappe besorgen, wenn sie Grímheiður die Unterlagen zurückgeben wollte. Im Moment war die Mappe leer, und die Blätter lagen über den ganzen Schreibtisch verteilt. Dóra lehnte sich in ihrem imposanten Schreibtischstuhl zurück, den sie gekauft hatte, als sich die finanzielle Lage der Kanzlei endlich zu bessern schien – etwa einen Monat vor dem Zusammenbruch der Wirtschaft. Der Fall war so umfangreich, dass sie zunächst nur die wichtigsten Unterlagen durchsehen konnte. Dóra sortierte die Papiere auf zwei Stapel, einen wichtigen und einen weniger wichtigen, wobei sie versuchte, den wichtigen Stapel möglichst klein zu halten.
    Es wurde schnell deutlich, wie furchtbar die Sache gewesen war. Fünf Menschen waren auf schreckliche Weise ums Leben gekommen: vier Heimbewohner und ein Nachtwächter. Das Heim war ganz neu und auf Behinderte zwischen achtzehn und fünfundzwanzig ausgerichtet gewesen. Die Verstorbenen waren also alle noch jung, was die Sache noch schrecklicher machte. Der Nachtwächter war zufälligerweise im selben Alter, dreiundzwanzig, und gehörte einem zwölfköpfigen Team an. Die Tat war unvorstellbar grausam. Feuer machte vor nichts halt, und in diesem Fall hatte es so lange gewütet, bis nichts Lebendiges mehr übrig war. Dóra wunderte sich darüber, dass eine solche Einrichtung nicht über ein vernünftiges Brandschutzsystem verfügte. Es war auch merkwürdig, dass die Bewohner und der Nachtwächter nicht nach draußen gelaufen waren und um Hilfe gerufen hatten, aber vielleicht hatte sich das Feuer so schnell ausgebreitet, dass das unmöglich gewesen war.
    Dóra sammelte die restlichen Papiere zusammen und legte sie auf den unwichtigen Stapel. Dann blätterte sie den wichtigen Stapel durch, bis sie Jakobs Urteil fand. Darin klärten sich die meisten Fragen, und der Ablauf der Ereignisse wurde deutlich.
    Gegen drei Uhr nachts hatte sich Benzin entzündet, das in den Fluren und in allen Zimmern verschüttet worden war. Die feuerfesten Türen der kleinen Appartements standen offen, weil die automatischen Schließvorrichtungen mit Stühlen blockiert worden waren. Das sprach alles gegen einen Unfall; es handelte sich eindeutig um eine vorsätzliche Tat. Der Nachtwächter war angegriffen worden und hatte einen Schlag auf den Hinterkopf erlitten. Obwohl die Obduktion und andere Indizien keinen Rückschluss auf den genauen Ablauf gaben, ging man davon aus, dass der Mann bewusstlos war, als das Benzin verschüttet wurde. Seine verbrannte Leiche war mit dem Stuhl im Zimmer der Nachtwachen verschmolzen, und es gab keine Anzeichen, dass er sich bewegt oder versucht hatte zu fliehen. Die Todesursache war Erstickung wegen Rauchvergiftung. Von ihm hatten die Bewohner also keine Hilfe erwarten können. Die Bauarbeiten waren erst kurz zuvor abgeschlossen worden, es war noch nicht alles fertig und das Brandschutzsystem noch nicht angeschlossen. Dies war zwar bemängelt worden, aber da man ziemlich hinter dem Zeitplan lag, war die Vorfreude, das Heim zu beziehen, größer gewesen als die Vernunft, und man zog ein, bevor alles fertig war. Die Mängelrüge wurde einfach »vergessen«, die Sensoren, die den Bewohnern normalerweise das Leben gerettet hätten, sendeten ihre Signale ins Leere, und die Löschanlage in der Decke versprühte kein Wasser. Fatalerweise hätte das Heim in der Nacht zudem von zwei Mitarbeitern bewacht werden sollen, aber einer hatte sich so kurzfristig krank gemeldet, dass man keinen Ersatz für ihn fand. Der kranke Nachtwächter sagte aus, er sei eine Stunde vor dem vermeintlichen Brandausbruch angerufen worden. Zu diesem Zeitpunkt sei noch alles ruhig gewesen, das Telefonat hätte sich nur um einen Schlüssel gedreht, den sein Kollege nicht fand. In den Unterlagen wurde noch ein weiteres kurzes Telefonat erwähnt, das im Heim eingegangen war, und zwar kurz bevor der Nachtwächter seinen kranken Kollegen zu Hause angerufen hatte. Der Anrufer, ein junger, nicht namentlich genannter Mann, sagte aus, er könne sich nur dunkel daran erinnern, er sei betrunken gewesen und müsse sich wohl verwählt haben. Seine Aussage wurde nicht angezweifelt, da andere Nachtwächter bestätigten, es sei öfter vorgekommen, dass Betrunkene nachts in der Einrichtung anriefen.
    Das Heim stand in einem Neubauviertel am See Reynisvatn, wo asphaltierte Straßen an leeren Grundstücken entlangführten, auf denen es sich nun niemand mehr leisten konnte, Häuser zu bauen. Daher

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