Feuernacht
Falls verdient hatte. Darüber hatte kein Wort im Urteil gestanden, was ihr völlig unverständlich war, es sei denn, es war von allen übersehen worden. Dóra schlug die Augen wieder auf und durchsuchte die Unterlagen in dem großen Stapel noch einmal, diesmal wesentlich aufmerksamer als vorher.
Sie hatte immer gedacht, ein solches Heim sei ein sicherer Ort. Eine Art Festung für die Schwächsten der Gesellschaft. Aber das war offenbar keineswegs der Fall.
Was war da eigentlich los gewesen?
4 . KAPITEL
MITTWOCH ,
6 . JANUAR 2010
Zum Glück war die Radio-Sendung in zehn Minuten vorbei. Margeir konnte sich nicht erinnern, sich jemals so sehr auf das Ende der Übertragung gefreut zu haben wie jetzt, obwohl ihn das Programm schon oft gelangweilt hatte. Der Moderator der nächsten Sendung war noch nicht da, aber das änderte nichts daran, dass Margeir gleich aufhören würde. Er würde einfach eine alte Sendung abspielen und hoffen, dass sich niemand beschwerte. Aber damit war nicht zu rechnen, denn die Hälfte des Programms bestand ohnehin aus Wiederholungen – alles andere wäre für einen so kleinen Privatsender unrentabel. Außerdem nahmen die Hörerzahlen abends sowieso stetig ab. Margeirs Sendung funktionierte kaum noch, denn sie baute darauf auf, dass Hörer anriefen. Er schob es schon viel zu lange vor sich her, mit seinem Chef darüber zu reden und zu fordern, im Programm weiter vorgezogen zu werden. Inzwischen war er so gelangweilt, dass er immer schlechter wurde, und die Chance, dass sein Wunsch in Erfüllung ging, war äußerst unrealistisch. Margeir konnte unmöglich festmachen, wann genau sein Interesse für den Job nachgelassen hatte oder warum es überhaupt so weit gekommen war. Ganz plötzlich war diese Lethargie zu einem Problem geworden.
Ein rotes Lämpchen blinkte. Ein Hörer war in der Leitung. Margeir drehte den Song leiser, den er aufgelegt hatte, um nicht sinnlos weiterplappern zu müssen, während er auf Anrufer wartete. Der Techniker hatte frei, und es gab nicht genug Geld, um eine Vertretung einzustellen. Margeir musste sich die wichtigsten Dinge, die er in der Ausbildung gelernt hatte, wieder ins Gedächtnis rufen: Werbung abspielen, Musik auflegen und Anrufe beantworten. Die komplizierteren Einstellungen waren bereits vorbereitet worden, bevor seine Sendung anfing. Ihm war nur telefonisch mitgeteilt worden, er solle ins Studio kommen, warten, bis die Wiederholung der Sendung vor ihm zu Ende war, und zum richtigen Zeitpunkt übernehmen. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er noch darüber nachgedacht, was er machen sollte, wenn die Ausstrahlung nicht funktionierte. Er würde niemanden um Hilfe bitten, sondern einfach wieder nach Hause gehen und das Rauschen der defekten Anlage – oder einfach Stille – in den Äther hinaussenden.
Das Lämpchen blinkte schneller, und Margeir fluchte leise, dass er sich die Telefonnummeranzeige nicht hatte geben lassen, damit er sehen konnte, wer in der Leitung war. Wenn der Techniker da war, bekam er immer die Info, ob der Anrufer ein alter Bekannter des Senders war, einer dieser Leute, die jedes Mal anriefen, um mit einer ans Krankhafte grenzenden Euphorie zum tausendsten Mal über ein Anliegen – oder eine fixe Idee – zu diskutieren. Leider war dieses Gelaber alles andere als originell. Solche Hörer hatten kein Interesse daran, Gegenargumente zu hören, und hielten den Sender für ihr rechtmäßiges Rednerpult. Wahrscheinlich hatten genau diese Leute ihm die Motivation genommen, mit jedem Wort seine Freude und Erwartung gedämpft. Am Anfang sollte sich seine Sendung gar nicht um Politik drehen, sondern um Unterhaltung der leichteren Art für jüngere Hörer. Aber das war misslungen. Die Anrufer interessierten sich weder für Kino oder neue CD s noch für das Leben berühmter Schauspieler und Musiker. Dieselbe Zielgruppe, die tagsüber zuhörte, schaltete auch abends ein, und alle wollten nur über Politik reden. Das Lämpchen blinkte immer noch, der Hörer hoffte offenbar weiterhin durchzukommen. Margeir brauchte eigentlich gar keine Nummernanzeige, um zu sehen, dass das einer dieser Extremfälle war – jeder normale Mensch hätte schon längst wieder aufgelegt.
Plötzlich war das Lied zu Ende, und es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder über irgendetwas zu schwadronieren oder zuzuhören und zu versuchen, der Stimme am anderen Ende der Leitung ab und zu ins Wort zu fallen. Da Margeir nichts einfiel, worüber er sich auslassen konnte, war er
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