Feuerregen (Billy Bob Holland) (German Edition)
kapierte. Ohne dass etwas Schlimmes dabei war. Es war, als ob sie genauso alt wie er wären, oder er so alt wie sie, nur dass er sich viel besser in der Welt auskannte als sie und sich um sie kümmern und sie beschützen konnte.
Er brachte bloß nie den Mut auf, sie anzusprechen. Vielleicht haute es heute Abend hin. Er hockte sich auf die Lehne einer Holzbank unter den immergrünen Eichen, die Haare glatt zurückgestriegelt, den Kamm in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt, und trank einen Schluck aus dem Pappbecher, der mit Cola und zerstoßenem Eis gefüllt war. Die Bäume über ihm waren dunkelgrün, und das Zifferblatt der Uhr am Gerichtsgebäude glühte im Abendrot. Breite Schattenstreifen fielen jetzt auf die Straßen, und die Mädchen vor dem Lebensmittelladen waren in den bunten Schein der Neonreklame getaucht. Mann, was war der Sommer doch für eine super Jahreszeit. Wenn er bloß den Mut aufbrächte, über die Straße zu gehen und ...
Genau in diesem Moment hielt Jeff Deitrichs gelbes Kabrio, das Verdeck hochgeklappt, unmittelbar vor ihm an der Bordsteinkante, und Jeff sagte: »Setz dich hinten rein, du Schlurch.«
Sie jagten ihn zwei Straßenzüge weit, bis sie ihm in einer Seitengasse den Weg abschnitten, und Chug, Hammie und Warren ihn von einer Feuerleiter zerrten und hinten in das Auto warfen.
Zwischen Hammie und Chug auf der Rückbank eingezwängt, sah er das Ortsschild am Fenster vorbeihuschen.
»Was habt ihr vor?«, sagte er.
»Du wirst heute Nacht zum Tiefseetaucher, junger Freund. Hast du mal die Jacques-Cousteau-Sendungen im Fernsehn gesehen? Was ein Froschfresser kann, kannst du allemal«, sagte Hammie. Er zog den Kamm aus Wesleys Brusttasche und kratzte sich damit das rote und dunkelorange Schmetterlingstattoo an seinem Hals.
»Froschfresser? Was hat denn das mit Froschfressern zu tun?«, fragte Wesley.
Kurz nach Mitternacht bog das gelbe Kabrio auf einen Feldweg ein, und als Wesley ein paar Minuten später aus dem Fenster schaute, erkannte er die Umgebung wieder, stellte fest, dass sie an dem Steinbruch waren, und kam sich vor wie in einen schlechten Traum zurückversetzt.
Wesley, dem das Herz im Halse schlug, dessen Achselhöhlen klatschnass vor Schweiß waren, stieg mit den anderen aus. Der Wind hatte sich gelegt, und eine Staubwolke hing in der Luft und zog langsam über die gelben Erdhügel rund um den Krater ab.
»Sag ihnen Bescheid, Warren. Ich hab noch nie jemand verpfiffen. Nicht mal, als mich die Bullen ins Loch gesperrt haben«, sagte Wesley.
»Das sag ich ihnen doch schon die ganze Zeit. Du bist schwer auf Zack, Kleiner. Deswegen lassen sie es dich auch beweisen«, sagte Warren. Er lächelte gutmütig, so wie es der alte Warren immer machte, mit kantigem Kinn, klarem Blick, hübsch wie ein Filmstar.
»Wieso muss ich denn was beweisen? Ich hab doch nix falsch gemacht«, sagte Wesley.
»Keine gute Einstellung, Wes«, sagte Warren und zog eine nachdenkliche, besorgte Miene. »Kannst du gut schwimmen?«
Jeff klappte den Kofferraum auf.
»Das hier ist eine Tauchausrüstung, du Pfeife. Das ist eine Unterwasserkamera mit Lampe. Du tauchst zu dem Mercedes runter und machst Bilder. Wehe, die Moppköpfe sind nicht drin«, sagte Jeff.
»Wieso machst du’s nicht selber?«, sagte Wesley.
Jeff hatte eine zusammengerollte Illustrierte in der Hosentasche stecken. Er zog sie heraus und hieb Wesley die harte Kante auf die Stirn, biss sich auf die Lippe, als sei er kurz davor, rohe Gewalt anzuwenden. »Weil ich nicht ins Wasser gehe, wenn Leichen drin sind, Pickelfresse. Willst du weiter dumm daherschwätzen oder die Nacht überleben?«, sagte er.
Wesley zog sich bis auf die Boxershorts aus, setzte sich in den Sand, legte die Flossen an, streifte sich die Segeltuchriemen der Pressluftflasche über die Schulter und schnallte die Maske um. Warren hängte ihm eine mit Gummi ummantelte Lampe um den Hals und drückte ihm die Kamera samt Unterwasserlicht in die Hände.
»Hast du noch nie ’ne Flasche umgehabt?«, fragte er.
»Yeah, der ist doch regelmäßig auf den Bahamas, Warren«, sagte Hammie.
»Was ist, wenn ich das Auto nicht finde?«, sagte Wesley.
»Komm ja nicht rauf«, sagte Jeff.
Wesley watete hinaus ins Wasser, ohne auf die Steine zu achten, die ihm in die Füße schnitten, stieß sich von einer Sandbank ab und tauchte unter.
Es war leichter, als er gedacht hatte. Im Schein der Lampe, die er um den Hals hatte, wirkte der Grund des Steinbruchs wie ein verkrusteter,
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