Feuersee
seiner Hosentasche und zog einen
der
Runensteine heraus, den er unbemerkt hatte mitgehen lassen. In der
Dunkelheit
konnte er nichts erkennen, aber er drehte ihn zwischen den Fingern und
tastete
gedankenverloren über die eingravierten Sigel.
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Kapitel 20
Alte Provinzen,
Abarrach
»Und dann, Vater«, erzählte Jera,
»nahm der
Schemen Gestalt an.«
»Greifbare Gestalt?«
»Nein.« Jera bemühte sich, die
Erinnerung in
Worte zu fassen. »Er blieb körperlos, durchsichtig.
Hätte ich versucht, ihn zu
berühren, würde ich nichts gefühlt haben.
Aber ich konnte Einzelheiten
erkennen, das Wappen auf seinem Brustpanzer, die Form seiner Nase, die
Narben
an seinen Armen, Vater, ich konnte seine Augen sehen. Er sah mich
an,
uns alle. Und es war, als hätte er einen großen Sieg
errungen. Dann – dann
verschwand er.«
Jera breitete die Hände aus. So anschaulich
waren ihre Worte und so beredt die Gebärde, daß
Alfred fast glaubte, die
transparente Gestalt verblassen und wie Morgennebel in der Sonne
vergehen zu
sehen.
Jonathan schüttelte den Kopf und lachte auf
seine liebenswerte, jungenhafte Art. »Ihr hättet das
Gesicht vom guten alten
Pons sehen sollen!«
»Ja«, meinte der Graf.
Jera stieg eine leichte Röte in die Wangen.
»Liebster, diese Angelegenheit ist wirklich sehr
ernst.«
»Ich weiß, mein Schatz.«
Jonathan bemühte sich,
die Beherrschung wiederzugewinnen. »Aber du mußt
zugeben, es war komisch
…«
Wider Willen mußte auch Jera lächeln.
»Noch
einen Schluck Wein, Papa?« fragte sie und beeilte sich, ihrem
Vater
nachzuschenken. Als sie sich unbeobachtet glaubte, suchte sie den Blick
ihres
Mannes und schüttelte in gespielter Entrüstung
tadelnd den Kopf. Jonathan
grinste vergnügt und zwinkerte ihr zu.
Der Graf sah es und war nicht belustigt. Alfred
hatte den unbehaglichen Eindruck, daß dem Grafen so gut wie
nichts entging. Die
wachen, schwarzen Altmänneraugen dieser ausgedörrten,
eingeschrumpften Greisengestalt
huschten beständig durch den Raum, und plötzlich
durchbohrten sie Alfred mit
ihrem scharfen Blick.
»Ich würde gerne sehen, wie Ihr das gemacht
habt.« Es hörte sich an, als hätte Alfred
einen besonders raffinierten
Kartentrick vorgeführt. Der Graf beugte sich vor und
stützte die spitzen
Ellenbogen auf den Tisch. »Tut mir den Gefallen. Ich werde
einen Wiedergänger
rufen. Was glaubst du, Tochter, welchen wir entbehren
…«
»Aber – aber das kann ich
nicht!« stammelte
Alfred. Er fühlte sich mehr und mehr in die Enge
gedrängt und wußte kaum noch
ein und aus. »Es geschah ganz unwillkürlich. Der
Schreck, wißt Ihr. Ich schaute
nach oben und sah das – das Schwert. Die Runen sind
– also, sie sind mir
einfach so zugeflogen …«
»Und gleich wieder davongeflattert, wie?«
Der
Graf stieß Alfred den spitzen Zeigefinger in die Rippen.
Jeder einzelne
Körperteil des alten Mannes schien auf einem Schleifstein
geschärft worden zu
sein.
»Sozusagen«, hauchte Alfred matt.
Der Graf kicherte in sich hinein und stieß ihn
wieder in die Seite. Alfred konnte sich bildlich vorstellen,
daß jeder Stich
der nadelspitzen Finger ihm die Wahrheit aussaugte wie Blut. Aber was
war denn
die Wahrheit? Wußte er wirklich nicht, was er getan hatte!
Oder verbarg ein
Teil von ihm sie vor dem anderen, wie er es sich angewöhnt
hatte in den langen
Jahren, die er gezwungen war, sich zu verstellen und zu tarnen? Er
strich mit
einer zitternden Hand durch das schüttere Haar.
»Vater, du darfst ihn nicht
quälen.« Jera trat
neben Alfred und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
»Noch etwas Wein?«
»Nein. Wirklich nicht. Vielen Dank.«
Alfreds
Glas stand noch unberührt vor ihm. »Wenn Ihr mich
entschuldigen wollt – ich bin
sehr müde. Ich würde mich gern hinlegen
…«
»Aber selbstverständlich«, sagte
Jonathan. »Wie
gedankenlos von uns, Euch nach diesem für Euch gewiß
entsetzlichen Zyklus keine
Ruhe zu gönnen …«
Entsetzlicher, als du es dir vorstellen kannst,
sagte Alfred zu sich selbst. Um vieles entsetzlicher! Er stand
schwerfällig
auf.
»Ich werde Euch zu Eurem Zimmer
führen«, erbot
sich Jera.
Das ferne Klingen einer Glocke tönte leise durch
die von Gaslampen erhellte Dunkelheit. Alle vier Anwesenden in dem
Zimmer
verstummten, drei von ihnen wechselten ahnungsvolle Blicke.
»Das werden Neuigkeiten aus dem Palast
sein«,
sagte der Graf und machte
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