Feuersteins Drittes
wegfuhren, überreichte ihm der Kreuzfahrtdirektor diskret ein großes Fresspaket. Es ist wirklich das einzige Häuschen hier, Toiletten gibt es keine, darauf hatte man uns schon auf dem Schiff warnend hingewiesen — man weiß ja nicht nur auf Island, was alte Menschen brauchen. Dafür gibt es aber auch keinen Ramschladen.
Es bedurfte nur weniger Schritte über das Steinfeld, um ganz allein zu sein. Überall Vögel, die hier ihren Sommerurlaub verbringen, und zwischen den Steinen winzige, gelbe Blümchen, die tapfer, fast rührend, ihr kurzes Leben m der Kälte ertrotzen. Heftiges Möwengeschrei in der Perne zeigte uns, dass wir doch nicht allein waren: Dr. Gradinger und seine Frau robbten auf dem Boden und suchten seltene Würmer. Kein Wunder, dass sich die Vögel ärgerten, tun sie doch alle dasselbe, und so viele Würmer gibt es hier nicht.
Inzwischen hatte ein zweites Schiff in der Magdalenenbucht Anker gelassen, die »VistaMar«, ein bisschen plump in der Erscheinung neben unserem weißen Traumschiff, dafür aber mit polartauglichen Propellern und angeblich berühmt für den fast wissenschaftlichen Anspruch ihrer Exkursionen. Mitleid erregend hingegen die Beiboote: Die Passagiere mussten auf dem Weg zum Ufer im offenen Schlauchboot sitzen! Um den Anblick von so viel nackter Armut zu vermeiden, schauten wir diskret in die andere Richtung, als sich unsere Wege kreuzten. Bestimmt lagerten in ihren Überlebenskisten nur Zwieback und Wasser.
Dr. Gradinger und seine Frau hätten wir übrigens fast zurückgelassen, weil sie das Signal für die Abfahrt überhört hatten und immer noch am Boden robbten. Aber der Eisbär, der inzwischen seinen Bärenkopf abgenommen hatte, führte zum Glück eine Liste und hatte bei jedem Boot sorgfältig nachgezählt.
Ach so, noch ein Nachtrag zu gestern: Der Volkstanzabend des Schiffspersonals reichte vom spanischen Trallalla bis zum norwegischen Hopsassa und war fast so rührend wie die kleinen, gelben Blümchen zwischen den Steinen, vor allem, als ein Philippino in Lederhosen den bayerischen Rhythmus nicht schaffte, sodass Frau Dorsch mehrmals schreien musste: »JETZT IST ER SCHON WIEDER HINGEFALLEN!« Und unsere sonst so diskrete, zurückhaltende Weinkellnerin entpuppte sich auf der Bühne als Temperamentsbolzen der Sonderklasse. Kennt man ja von der Weihnachtsparty im Büro.
Vorher hatte es den Empfang für die »Club-Mitglieder« gegeben, die Repeaters, die schon früher mal Gast auf einem Schiff dieser Kreuzfahrtlinie gewesen waren. Erstaunlich viele, hätte ich niemals vermutet: Mehr als 70 Prozent der Passagiere stellten sich als Wiederholungstäter heraus, darunter als absoluter Champion eine ältere, unauffällige Dame mit insgesamt 1700 Passagiertagen, fast fünf Jahre also war sie unterwegs auf einem Schiff, alles zusammengerechnet. Anderswo bekommt man nach so langer Haftzeit Bewährung, bei uns bekam sie eine stehende Ovation 5 . Und Champagner satt, wie alle Repeaters an diesem Abend.
Eine Schweizerin mit 800 Passagiertagen und im besten Alter (was auf einem Kreuzfahrtschiff bedeutet: unter 70) hatte Ehrung und Champagner so sehr genossen, dass sie später, bei der Volkstanz-Vorführung, die Schmerzgrenze alpenläntlischer Enthemmung überschritt und jodelähnliche Lustschreie auszustoßen begann, anfangs nur nach den Tänzen, später sogar schon bei deren Anküntligung. Als wir auf dem Weg zum Ausgang an ihrem Tisch vorbeikamen, hielt sie mich am Ärmel fest und jauchzte auf, was ich zunächst als schweizerischen Brunftschrei missverstand, als weibliches Gegenstück zum Alphorn. Aber es war Kritik.
»Deine Lesung war langweilig, keine Stimmung!«, sagte sie laut, aber bedächtig, denn auch ein Vollrausch beschleunigt Schweizer nicht wesentlich. »DAS hier ist Stimmung, oder?« Und zur Bestätigung stieß sie einen weiteren Lustschrei aus, als wäre sie in diesem Moment schwanger geworden. Damit sie meinen Ärmel losließ, versprach ich ihr, beim nächsten Mal richtig die Sau rauszulassen, in der sicheren Erwartung, dass der unweigerlich folgende Kater sie von meiner zweiten Lesung — heute nach dem Abendessen — fern hält.
Und was meine Frau und mich betrifft. Nein, wir haben nicht getanzt, und ich habe ihr deshalb auch nicht das Kleid zerrissen, obwohl sie ihr längstes angezogen hatte. Auch nicht nachher, im Rausch der Leidenschaft, denn schließlich sind wir jetzt fünf Jahre verheiratet. Da nimmt man sich Zeit und zieht sich vorher in aller Ruhe aus. Und
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