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Feuersteins Drittes

Feuersteins Drittes

Titel: Feuersteins Drittes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Feuerstein
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besser. Es war nämlich kein Elch, sondern ein Rentier, ein Rangifer Tarandus , eine Rentier-Kuh, um genau zu sein, ich hatte eine solche schon mal in Alaska gesehen, in einem Vorstadtgarten von Anchorage.
    Ein Weilchen später, mitten in Longyearbyen, lief uns das gleiche Tier nochmals über den Weg, buchstäblich vor der Nase. Wahrscheinlich aus einer Zuchtherde und entsprechend harmlos. Aber das sagt man auch von Kühen, und die fürchte ich mehr als Löwen, seit mich mal so ein Mörderrind als Kind über einen Pinzgauer Berghang gejagt hat.
    Richtig gefährlich seien hier nur Vögel, hatte man uns auf dem Schiff gewarnt. Vor allem bei Spaziergängen auf einsamen Wegen müsse man sich in Acht nehmen, wenn man zu nahe an ihren Nestern vorbeikäme: Dann würden sie angreifen, Mützen und Perücken klauen und auf den Schädel hacken. Da sie alle unter Naturschutz stehen, darf man sich nicht zu heftig wehren, denn die Verletzung eines Vogels ist strafbar. Es gibt deshalb nur eine erlaubte Abwehr: ein hoch gehaltener Stock mit Hut drauf, an dem sich die Vögel austoben können, da sie immer nur das oberste Ziel angreifen. Also ähnlich wie damals beim Landvogt Gessler, dessen auf der Stange baumelnden Hut der stolze Wilhelm Teil nicht grüßen wollte. Ob das Ganze vielleicht nur ein sprachliches Missverständnis zwischen Österreichern und Schweizern war und der Landvogt seinen Hut gar nicht als Popanz hingehängt hatte, sondern zur Abwehr von Küssnachter Saatkrähen?
    Mitten in Longyearbyen entdecken wir einen Waffenverleih. Obwohl hier nirgends gejagt werden darf. Das ist zum Schutz gegen Eisbären, erfahren wir, für Ausflüge ins Innere der Insel. Hier kann man nicht nur, hier MUSS man fürs Picknick Gewehr samt Munition mieten. Ohne Waffenschein übrigens. Gleich sechs Verleiher gibt es vor Ort, und wer noch nie geschossen hat, kriegt kostenlos eine Einweisung. Wenn sich das bloß nicht bei den al-Qaida-Leuten rumspricht...

    LOGBUCH 14. JULI
    Kurs S auf das Nordkap z
    4°, bewölkt und stürmisch; Barometer 1004
    Mitternachtssonne

    Berauscht von Spitzbergen, benommen von den magnetischen Träumen, hatte ich völlig vergessen, von meiner zweiten Lesung zu berichten, vorgestern Abend.
    Sie hatte wieder in der Garden Lounge stattgefunden, vor meinem Stammpublikum gewissermaßen: So ziemlich dieselbe Zahl wie letztes Mal, nicht mehr, aber zum Glück auch nicht weniger, trotz der vorangegangenen Polarparty am Strand der Magdalenenbucht. Spätnachts, bei gleißendem Sonnenschein, am Rand der eisigen Inselwelt von Spitzbergen, stand ich vor Leuten, von denen die meisten mindestens »eine Million Dollar Nettowert« hatten, wie man in Amerika so wunderbar simpel seine Mitmenschen beschreibt, und las über eine Inselwelt im Pazifik, gegenunter, auf der anderen Seite der Erde. Ich berichtete über Cargo-Kult, Vulkane und Kannibalismus, über Tabus und Rauschrituale, und tat, als wüsste ich Bescheid, als hätte ich in den zwei Wochen, die wir dort verbrachten, verstanden, worum es da geht, wo ich mich nicht einmal selber verstehe, obwohl ich schon über 60 Jahre mit mir verbringe. Und wieder mal überwältigte mich die Lächerlichkeit meines Tuns, diesmal fast unerträglich verstärkt durch die unsichtbaren Metallberge, die rastlosen Pole und die hartnäckige Sonne, die sich weigert, unterzugehen.
    Ich wollte auf der Stelle sterben. Aber weil das nicht so einfach ist, las ich weiter, und so verlief die Lesung wie immer: Man lachte an den richtigen Stellen, und bei der Beschreibung der hochragenden Penisköcher als einziger Männerkleidung begannen, wie gewohnt, die Augen vieler Zuhörerinnen zu leuchten. Nur zu gern hätte ich jetzt den Blick auf meine kritische schweizerische Verehrerin gerichtet, ob sie wohl einen Lustschrei unterdrücken muss. Aber sie war nicht erschienen. Auch dem Abendessen war sie ferngeblieben, und als ich ihr heute an Deck begegnete, schaute sie in die andere Richtung und grüßte nicht zurück. Sie hasst mich dafür, dass ich Zeuge ihrer Peinlichkeit war, und sie ahnt nicht, dass mir das gefällt, weil es mich von meiner eigenen Peinlichkeit ablenkt.
    Zum Glück fand meine Lesung im letzten Windschatten von Spitzbergen statt, denn gleich danach, in der Verbindung zwischen Nordatlantik und der russischen Barentssee, wurde das Meer zunehmend rau, und jetzt, auf der Höhe der Bäreninsel, ist es richtig böse geworden: Windstärke 6, Brecher bis zum Hauptdeck, Regentropfen, die einem waagrecht ins

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