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Feuersteins Drittes

Feuersteins Drittes

Titel: Feuersteins Drittes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Feuerstein
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Fahrt, denn unser Schiff, erklärte er über Lautsprecher, habe zwar einen soliden Rumpf, aber zwei empfindliche Propeller, mit denen könne man nicht in voller Fahrt durchs Eis pflügen. Und dann wurde er feierlich: »Wir haben den nördlichsten Punkt unserer Reise erreicht, meine Damen und Herren, 80 Grad und 10 Minuten. Von hier sind es nur noch 780 Meilen bis zum Pol. Wir kehren jetzt um, danke.«
    Diese Nachricht erschütterte mich zutiefst. Nicht, weil wir umkehren, denn das Leben ist nun mal ein ständiges Abschiednehmen. Sondern weil unser Kapitän ganz offensichtlich keine Ahnung hat. Denn wie jeder weiß, der mal einen Pilotenschein hatte (wie ich) und dafür Prüfungen ablegen musste, darunter im Fach »Navigation«, beträgt der Abstand zwischen zwei Breitengraden konstant 60 Seemeilen. Macht bei 80 Grad nördlicher Breite präzise 600 Meilen bis zum Pol. Wie kommt er bloß auf 780? Hat er die Seemeile mit der englischen Meile verwechselt? Schwer denkbar, denn dann wären das 700 Meilen. Aber vielleicht kann einer, der nicht navigieren kann, auch nicht rechnen? Oder das Ganze ist ein Riesenbetrug: Wir sind erst bei 77 Grad, und er steckt die Reisekosten für drei Grad in die eigene Tasche? Zusammen mit 40000 Rollen Klopapier? Oder hat er vielleicht gar kein Kapitänspatent und ist in Wahrheit der Schiffskoch, der den echten Käpt’n nach dem Ablegen vergiftet hat, damit er auch mal mit reichen Witwen tanzen kann?
    Was tun in einem solchen Fall? Raufgehen und sagen: »Käpt’n, wir haben ein Problem...«? Wo ich doch gerade erst gestern zum Händeschütteln oben war, bei der Brückenbesichtigung, bei der jeder Passagier eine Kapitänsmütze aufsetzen und sich vor dem Ruder in Pose stellen durfte, vom Schiffsfotografen dokumentiert, für fünfundzwanzig Dollar pro Bild * ? Würde man mich als Meuterer verdächtigen und in Ketten legen?
    Eine neue Durchsage erlöste mich eine Stunde später von den finsteren Gedanken. »Ha-ha-ha«, begann der Kapitän, obwohl er sonst nie lacht, »da habe ich mich aber total verplaudert. Natürlich sind es in der Höhe von 80 Grad nördlicher Breite nur noch 600 Meilen zum Pol, und nicht 780... auch wenn die Pole bekanntlich wandern, ha-ha-ha.« Hm, ob er das wirklich selbst bemerkt hat? Oder ob er unsere Kabine abhören lässt und es deshalb weiß, weil ich kurz vorher noch laut und erregt mit meiner Frau darüber geredet hatte?

    Spitzbergen ist die größte Insel der norwegischen Svalbard-Gruppe. Hier bleibt die Mitternachtssonne mehr als hundert Tage aktiv, ebenso lang dauert dann die Polarnacht. Bei strahlendem Sonnenschein setzten wir heute Morgen um acht für fünf Stunden Anker in der Magdalenenbucht, einer überwältigend schönen Landschaft, umrandet von schroffen Bergen, zwischen denen die Gletscher, die fast das ganze Innere der Insel bedecken, ins Meer münden, oft ganz dramatisch, mit Abbrüchen, die ständig kleine Eisberge kalben.
    Einige Beiboote wurden klargemacht und für den Landgang zu Wasser gelassen. Es war meine erste Fahrt in einem Rettungsboot, und ich muss sagen: höchst komfortabel, alle Achtung. Geräumig, überdacht und heizbar, mit bequemen Sitzen, darunter versteckt zahlreiche mehrsprachig beschriftete Kisten mit Notproviant für den Schiffbruch Erster Klasse, vermutlich vorwiegend Kaviar und Champagner.
    Was dann folgte, war eher peinlich, und ich schämte mich hinterher, mitgemacht zu haben, genauso wie ich mich für manche Fernsehsendungen schäme... aber ebenfalls immer erst hinterher. Denn als wir an Land kamen — ein Geröllfeld durchsetzt mit Schneeresten, eine karge, melancholische Landschaft mit so klarer Luft, dass sie beim Atmen fast schmerzte —, standen schon Picknicktische und Feldstühle bereit, ein Buffet war aufgebaut mit Hotdogs und Suppenkessel, und ein Besatzungsmitglied, als Eisbär verkleidet, begrüßte jeden Ankömmling für das gemeinsame Erinnerungsfoto an der nördlichsten Stelle der Welt, an die die meisten von uns je in ihrem Leben kommen würden.
    Hier steht übrigens auch das nördlichste Häuschen der Welt, der Unterschlupf für den Sysselman , den norwegischen Regierungsbeauftragten, der in den Sommermonaten darüber wacht, dass die Passagiere der dreißig bis vierzig Kreuzfahrtschiffe, die hier zwischen Juni und August ankern, keine Abfälle hinterlassen oder ihrerseits als Abfall betrachtet und von Eisbären gefressen werden. Mit schussklarer Flinte stand er zu unserem Schutz bereit, und als wir wieder

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